Frankreich: Laizität und Kopftuch

20 Jahre Kopftuchverbot in französischen Schulen – Ein kritischer Rückblick

Von Fabian

Breitseite-Ausgabe SoSe 2024

Vor 20 Jahren, am 15. März 2004, wurde das Gesetz über religiöse Symbole an öffentlichen Schulen in Frankreich verkündet. Seitdem verbietet Artikel L141-5-1 des französischen Code de l’éducation Schüler*innen das Tragen „deutlich sichtbarer religiöser Zeichen“ („signes ostensibles religieux“). Bis heute ist das Thema in der öffentlichen Debatte präsent – Zeit für einen kritischen Rückblick.

Die Laizität – Ein Prinzip à la française?

Ausgangspunkt ist das Konzept der Laizität. Historisch begann die Laizisierung der öffentlichen Schulen Ende des 19. Jahrhunderts. Doch wer heute über Laizität in Frankreich spricht, meint vor allem das Gesetz vom Dezember 1905 über die Trennung von Kirche und Staat. Es verbot staatliche Finanzierung der Kirche und machte aus Kirchen privatrechtlich organisierte Vereinigungen. Es gilt bis heute.
Im Prozess der Gesetzgebung setzte sich das liberale Verständnis der Laizität gegen das autoritäre durch1 und legte so einen Schwerpunkt auf die Glaubensfreiheit. Gleich in Artikel 1 besagt das Gesetz: „Die Republik gewährleistet die Gewissensfreiheit“. Erreicht werden sollte dies durch die in den darauffolgenden Vorschriften verankerte institutionelle Trennung von Staat und Kirche.
Doch wenngleich gesetzlich verankert, so war dieses liberale Verständnis schon immer umstritten. Insbesondere tritt dem eine Konzeption entgegen, die eine Zurückdrängung des Religiösen in den privaten Raum fordert, gegenwärtig oft als „geschlossene Laizität“ bezeichnet. Frankreichs Schulen, die auch historisch ein zentraler Gegenstand der Diskussionen um die Laizität waren, werden von dieser Ansicht oft als „einzige Institution in der Gesellschaft, die dem Universellen gewidmet ist“ betrachtet.2

Im Namen der Laizität

Wieder vermehrt diskutiert wurde die Laizität erst Ende der 1980er-Jahre, als Schülerinnen mit Kopftuch zur Schule kamen. Im Jahr 1989 erklärte der Conseil d’État, Frankreichs höchstes Verwaltungsgericht, dass das Tragen religiöser Symbole durch Schüler*innen mit der Laizität insofern vereinbar sei, „als es die Freiheit der Bekundung religiöser Überzeugungen darstellt“.3 Diese Freiheit soll nach dem Gericht lediglich in besonders gravierenden Fällen beschränkt sein. So dürfe das Tragen etwa nicht als Mittel zur Bekehrung anderer eingesetzt werden. Folglich stellte sich die Rechtsprechung in die Tradition des liberalen Gesetzes von 1905. Doch den Schulen gelang es nicht, diese Regeln konsequent umzusetzen. Der Soziologe Jean Baubérot hebt hervor, dass es gegen die Gerichtsentscheidung von Anfang an Widerstand gab. Ab 1994 habe das nationale Bildungsministerium gar Druck auf einzelne Lehrer*innen ausgeübt, junge kopftuchtragende Mädchen auszuschließen.4 Viele dieser Ausschlüsse wurden daraufhin von lokalen Verwaltungsgerichten wieder aufgehoben.
Im Namen der Laizität wurde 2004 schließlich das Gesetz verabschiedet, welches das Tragen religiöser Symbole in der Schule verbietet. Es basierte wesentlich auf dem Vorschlag der zuvor von Staatspräsident Jacques Chirac einberufenen Commission Stasi.5 Das besagte Gesetz wurde in der Nationalversammlung mit einer Mehrheit von 494 Ja-Stimmen bei nur 36 Gegenstimmen und 31 Enthaltungen verabschiedet.6

2004: Die Laizität wird zur Pflicht für Schüler*innen

Zunächst war das Gesetz eine Abkehr von dem gesetzlich verankerten liberalen Verständnis der Laizität, es begründet nunmehr Neutralitätspflichten für Schüler*innen. Wie die verwaltungsrechtliche Rechtsprechung zeigt, war das durch die Laizität jedenfalls nicht geboten.
Zwar wurde die Neuregelung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht beanstandet, zu einer verfassungsrechtlichen Überprüfung wurde das Gesetz von 2004 Frankreichs Verfassungsgericht, dem Conseil constitutionnel, aber nie vorgelegt.
Formal betrifft das Gesetz von 2004 alle Glaubensrichtungen gleich, verbietet es doch das Tragen jeglicher „deutlich sichtbarer religiöser Zeichen“. Aber es wurde anlässlich des muslimischen Kopftuchs verabschiedet und betrifft in der Praxis überwiegend muslimische Frauen. Insofern liegt hierin auch eine mittelbare Diskriminierung.
Die Anhänger*innen des Gesetzes begründen die Notwendigkeit der Regelung vielfach mit einem universalistischen Ansatz.7 Dieses Verständnis scheint vom Gedanken öffentlicher Neutralität geleitet zu sein. Doch auch diese kritikwürdige Deutung wird nur partiell durchgehalten: Von der Laizität nach dem Gesetz von 1905 gibt es historisch bedingt bis heute regionale Ausnahmen, etwa in Alsace-Moselle. Diese Ausnahmen werden von der Commission Stasi dadurch legitimiert, dass die dortige Bevölkerung besonders an diesem Sonderstatus hänge.8 Das demonstriert eine Inkonsequenz des eigenen Anspruchs, die allerdings kaum überrascht.
Dieser Vergleich verdeutlicht einen mitunter blinden Fleck des Neutralitätsanspruchs. Historisch gesehen ist die französische Kultur eng mit dem Katholizismus verbunden. Christlich geprägte Traditionen werden als Teil der Kultur angesehen und gelten als vermeintlich neutral, während anderen Religionen entstammende Erscheinungen als offensichtlicherer Neutralitätsverstoß gewertet werden.

„Junge Frauen im Kampf um ihre Rechte“

Das Gesetz verhindert auf paternalistische Weise die weibliche Selbstbestimmung und ist damit von einem feministischen Anspruch weit entfernt.
Deutlich wurde dies erneut im Jahr 2023: Zu Beginn des Schuljahrs 2023/24 wurde Schüler*innen in Frankreich das Tragen der aus dem sogenannten Nahen Osten bzw. Westasien und Maghreb stammenden traditionellen Kleidungsstücke Abaya und Qamis in der Schule verboten. Das geschah mittels einer Dienstanweisung an die Schulen, die das Gesetz von 2004 präzisieren sollte.9 Insbesondere die von Frauen getragene Abaya war in den letzten Jahren verstärkt in Frankreichs Schulen präsent. Das nun ebenfalls verbotene männliche Pendant, die Qamis, spielte hingegen praktisch keine Rolle.

Die Soziologin Agnès De Féo betont, dass das Tragen der Abaya einen Stolz auf das eigene muslimische Leben ausdrücke, während die Gesellschaft bestrebt sei, es aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. So werde aus dem Tragen der Abaya ein feministischer Diskurs: „junge Frauen im Kampf um ihre Rechte in einer Gesellschaft, in der sie sich nicht respektiert fühlen“.10 De Féo spricht von einem Bumerangeffekt, das Gesetz habe die Sichtbarkeit muslimischer Symbole anderswo erhöht. Doch als Zeichen eines Scheiterns des Ansatzes des mittlerweile 20 Jahre alten Gesetzes fasst die aktuelle französische Regierung derart wiederkehrende Debatten nicht auf. Vielmehr verbietet sie weitere Kleidungsstücke – im Namen der Laizität.

Eine selektive Bezugnahme auf die Laizität

Die dem Gesetz zugrunde liegende Konzeption der Laizität, die das Verbot „als Chance für die Integration“11 versteht, greift daher in vieler Hinsicht zu kurz.
Vor dem Hintergrund einer sich verbreitenden Skepsis gegenüber dem Islam entdecken viele die Laizität als Instrument wieder und fordern deren konsequentere Umsetzung. Konsequent umgesetzt war die Laizität in Frankreich auch auf institutioneller Ebene nie: Neben den regionalen Ausnahmen finanziert der Staat bis heute katholische Privatschulen, stellt Weihnachtskrippen auf und hat eine Vielzahl ausschließlich christlicher Feiertage. All das sind insbesondere Privilegien der katholischen Kirche. Geändert hat sich hieran seit 1905 fast nichts.
Faktisch insbesondere (weibliche) Muslim*innen einschränkende Gesetze im Namen der Laizität gab es in den letzten zwei Jahrzehnten hingegen mehrfach. Neben dem Gesetz von 2004 geht etwa das Gesetz von 2010, das das Verschleiern des Gesichts im öffentlichen Raum verbietet, in die gleiche Richtung. Derartige Regelungen richten sich damit hauptsächlich gegen sozial unterdrückte Gruppen und verstärken so ihre Ausgrenzung.
Der Erfolg der historisch sehr fruchtbaren Laizität wird in Zukunft davon abhängen, ob sie sich als inklusiv er-weist. Ein Rückblick zeigt jedenfalls: Die angestrebte „Chance für die Integration“ liegt im Gesetz von 2004 nicht.

Endnoten:

  1. Jean Baubérot, Laïcité 1905–2005, entre passion et raison (2004), S. 91 ff. ↩︎
  2. Le Nouvel Observateur, „Profs, ne capitulons pas !“, November 1989. [Übersetzung aller Zitate durch den Verfasser] ↩︎
  3. Conseil d’État, avis du 27 novembre 1989, n° 346893. ↩︎
  4. Jean Baubérot, „La loi dite de ‚laïcité’, dix ans après“, in: Mediapart.fr, 14.3.2014, abrufbar unter: https://blogs.mediapart.fr/jean-bauberot/blog/140314/la-loi-dite-de-laicite-dix-ans-apres. ↩︎
  5. Benannt wurde die Kommission nach ihrem Vorsitzenden Bernard Stasi. ↩︎
  6. Assemblée nationale, XIIe législature, scrutin n° 436 – Séance du 10 février 2004, abrufbar unter: https://www.assemblee-nationale.fr/12/scrutins/jo0436.asp. ↩︎
  7. vgl. Zitat zu Fn. 2. ↩︎
  8. Bernard Stasi, Rapport de la Commission de réflexion sur l’application du principe de laïcité dans la République vom 11.12.2003, S. 51. ↩︎
  9. Note de service du 31/8/2023, abrufbar unter: https://www.education.gouv.fr/bo/2023/Hebdo32/MENG2323654N. ↩︎
  10. Agnés De Féo, „Le gouvernement n’a pas compris l’effet boomerang des lois coercitives“ in: Le Monde, 5. September 2023, S. 28. ↩︎
  11. Bernard Stasi, (Fn. 8), S. 69. ↩︎