Eine Bewertung der jüngsten Reform des Bundestagswahlrecht.
Von Jan
Von der „organisierten Wahlfälschung“ zur Streichung der Grundmandatsklausel
Seit Jahren wurden die Forderungen nach einer Verkleinerung des Bundestags immer lauter und deren Umsetzung bei inzwischen 736 Bundestagsabgeordneten auch immer dringlicher. Mitte Januar 2023 stellte die regierende Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP daher ihren Vorschlag zur Reform des Bundestags- wahlrechts vor. Allen voran Politiker*innen der CSU, reagierten darauf mit Frontalangriffen und sprachen beispielsweise von „organisierte[r] Wahlfälschung“.1 Unmittelbar vor der zweiten und dritten Lesung im Bundestag ergänzte die Ampel den Entwurf um eine weitere weitreichende Änderung, nämlich die Streichung der sog. Grundmandatsklausel. Diese bestimmte bislang in § 6 Bundeswahlgesetz (BWahlG) eine Ausnahme von der dort festgeschriebenen 5%-Sperrklausel. Wenn eine Partei mindestens drei Direktmandate über die Erststimme in den Wahlkreisen erringen konnte, durfte sie trotz Unterschreiten der 5%-Hürde in der Stärke ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag ein- ziehen. Da von der Grundmandatsklausel zuletzt die Partei Die LINKE mit einem Zweitstimmenergebnis von 4,9%beider Bundestagswahl 2021 profitierte,stimmte auch sie fortan in den Kanon der Oppositionskritik ein. Bei der Union verschärfte man die Agitation ebenso, denn besonders über der CSU hängt das Fallbeil der 5%-Klausel an einem dünnen Faden. Ihr Zweitstimmenergebnis belief sich 2021 mit 5,2%2 nur knapp über der Sperrklausel. Doch alle Kritikrufe liefen ins Leere. Am 17. März 2023 beschloss der Bundestag mit den Stimmen der Ampelfraktionen die Änderungen des Bundeswahlgesetzes.3 Die Opposition kündigte Normenkontrollen beim Bundesverfassungsgericht an.
Entscheidung für das Verhältniswahlrecht
Die Neuerungen sind ein Wendepunkt für das deutsche Wahlrecht, denn sie stellen in großen Teilen einen Abschied vom bisherigen Wahlsystem dar. Dieses war bislang als sog. personalisiertes Verhältniswahl- recht bekannt und damit ein Kompromiss aus Mehrheits- und Verhältniswahlsystem. Über die Erststimme gelangten Abgeordnete nach dem Mehrheitswahlrecht in den Bundestag, über die Zweitstimme nach dem Verhältniswahlrecht. Aufgrund der grundlegenden Ausrichtung der Parlamentszusammensetzung an der Zweitstimme hatte dieser Kompromiss zwar schon von Beginn an den Grundcharakter eines Verhältniswahsystems,4 kannte jedoch mit der Erststimme ein starkes Mehrheitswahlelement. Dieses führte regelmäßig zur Verzerrung der Verhältniswahlprinzipien, denn einem Verhältniswahlsystem ist eigentlich immanent, dass die Parlamentssitze entsprechend des Stimmenverhältnisses der einzelnen Parteien verteilt werden. Oftmals kam es aber vor, dass bestimmte Parteien mehr Man- date über die Erststimme gewannen, als ihnen eigentlich nach dem Zweitstimmenergebnis zustand. Damit trat regelmäßig ein Effekt der Überrepräsentation ein von dem quasi ausschließlich CDU/CSU und SPD profitierten, die seit 1949 auf 62 bzw. 34unausgeglichene Überhangmandate kommen.5 Erst 2012 entschied sich das Bundesverfassungsgericht dazu, diese Verzerrung nicht länger zu dulden. Hatte es noch 1997 in einer 4:4 Entscheidung unausgeglichene Überhangmandate als zu tolerierenden Effekt des Kompromisses beider Wahlsysteme angesehen,6 verlangte es nunmehr den Ausgleich von Überhangmandaten insoweit, als dass der Grundcharakter der Wahl als eine Verhältniswahl erhalten bleibt.7 Damit sah sich der Bundestag gezwungen von fortan einen Vollausgleich der Überhangmandate in das Bundeswahlgesetz zu schreiben.8 Nicht zuletzt dies trieb die Aufblähung des Bundestags wesentlich voran.
Mit dem Änderungsgesetz der Ampel9 geht diese die Verkleinerung nun im Kern mit einer Abschaffung des Mehrheitswahlelements an. In Zukunft gilt eine absolute Deckelung des Bundestags auf 630 Abgeordnete (§ 1 Abs. 1 BWahlG). Erst- und Zweitstimmen bleiben, nachdem ein erster Entwurf zur Umbenennung in Wahl- kreis- und Hauptstimme zurückgenommen wurde, zwar erhalten. Der bisherige mehrheitswahlrechtliche Automatismus, dass Kandidat*innen über ihr Erststimmenergebnis direkt in den Bundestag gewählt sind, ist jedoch abgeschafft.10 Zukünftig wird die Verteilung der 630 Sitze ausschließlich über das Zweitstimmenergebnis bestimmt. Dabei sollen die Erststimmen-Gewinner*innen der Wahlkreise zuerst berücksichtigt werden, aber nur solange dies vom Zweitstimmenergebnis gedeckt ist (sog. Zweitstimmendeckung, § 1 Abs. 3 BWahlG). Erringt eine Partei mehr Erststimmengewinne in den Wahlkreisen als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, bleiben diejenigen Erststimmengewinne unberücksichtigt, die mit der geringsten Stimmenanzahl im Verhältnis zu den anderen Wahlkreisgewinnen der Partei gewonnen wurden (§ 6 Abs. 1 BWahlG).
Mit dieser absoluten Zweitstimmendeckung löst sich der Bundestag vom System der personalisierten Verhältniswahl. Das künftige Wahlsystem trägt nun nicht mehr nur den Grundcharakter einer Verhältniswahl, sondern ist de facto ein reines Verhältniswahlsystem. Aus der Perspektive des Grundgesetzes ist das nicht zubeanstanden, denn dieses schreibt kein spezifisches Wahlmodell vor. Die Entscheidung darüber liegt grundsätzlich im Gestaltungsspielraum des gesetzgebenden Bundestags.11 Sämtliche Kritik, die den Wegfall von in Wahlkreisen direkt gewählten Abgeordneten als „organisierte Wahlfälschung“ oder „Betrug am Wähler“ beklagt, ist insofern verfassungsrechtlich unbegründet.
Verschärfung der grundproblematischen Sperrklausel
Durch die Brille des Grundgesetzes wesentlich brisanter erscheint jedoch die Streichung der Grundmandatsklausel. In der Logik des neuen Wahlrechts ist die Streichung zwar konsequent, denn der Regelungsgehalt der Grundmandatsklausel bezog sich auf direkt gewonnene Bundestagsmandate, die es im neuen Wahlrecht schlicht und einfach nicht mehr gibt. Ein verfassungsrechtliches Problem liegt aber in der Auswirkung auf die mit der Grundmandatsklausel bislang korrespondierende 5%-Sperrklausel.
Die Sperrklausel greift seit jeher in demokratische Grundrechte ein. Sie beschneidet nicht nur das Recht kleinerer Parteien auf Chancengleichheit bei Wahlen aus Art. 21 Abs. 1 iVm Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG, sondern auch den Wahlrechtsgrundsatz der Wahlgleichheit aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG. Aus der Wahlgleichheit leitet sich der Grundsatz der Erfolgswertgleichheit ab nach demjede Stimme gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments haben muss. Durch die Sperrklausel bleiben aber Stimmen von Wähler*innen für Parteien unter 5% für die Parlamentszusammensetzung unberücksichtigt. Das Bundesverfassungsgericht nahm diese Beschneidung demokratischer Rechte bislang nur hin, um die Funktionsfähigkeit des Bundestags nicht durch eine mögliche Zersplitterung des Parlaments in immer kleinere Parteien zu gefährden.12 Dabei brachte Karlsruhe auch die Grundmandatsklausel als ein den Eingriff in die demokratischen Rechte abmilderndes Instrument in Stellung. Die alternative Möglichkeit einer Partei, über drei Direktmandate in voller Zweitstimmenstärke in den Bundestag einzuziehen, stelle eine Erleichterung vom harten 5%-Quorum der Sperrklausel dar.13 Mit der Beseitigung des Mehrheitswahlelements und der damit verknüpften Grundmandatsklausel schneidet die Sperrklausel nun also deutlich schärfer ins Fleisch von Wahlrechtsgleichheit und dem Recht der Parteien auf Chancengleichheit. Ohnehin ist die bisherige Rechtfertigung dieses Einschnitts höchst fraglich. Sie umfasst zwei belegungsbedürftige Hypothesen. Erstens, dass eine fehlende Sperrklausel überhaupt zu einer Zersplitterung der Parteienlandschaft in immer kleiner Parteien führt und zweitens, dass diese auch tatsächlich die Funktionsfähigkeit einer Demokratie bedroht. Als Beleg hierfür wird nahezu ausschließlich das Scheitern der Weimarer Republik angeführt.14 Ob die realen Funktionsfähigkeitsprobleme des Weimarer Reichstags aber kausal auf das Fehlen einer Sperrklausel zurückgeführt werden können, erscheint aus mehreren Gründen fraglich. Allein schon der Weimarer verfassungsrechtlich toxische Cocktail aus den Rechten des Reichspräsidenten zur Auflösung des Reichstags und zum Erlass von Notverordnungen machte parlamentarische Arbeit vor allem in den letzten Republikjahren quasi unmöglich. Die Sperrklausel hätte bei einer Höhe von 5% angesichts der Wahlergebnisse der NSDAP15 auch nicht die Beseitigung der Demokratie behindern, geschweige denn verhindern können. Tatsächlich wären in den frühen 1930er Jahren insbesondere demokratisch gesinnte Kleinparteien Opfer einer Sperrklausel geworden.16 Weimar scheiterte nicht zuletzt vor allem an der gesellschaftlich weit verbreiteten Antipathie gegenüber dem demokratischen Parlamentarismus. Ob Monarchist*innen, Erzkonservative oder Faschist*innen, sie alle waren Gegner des Parlamentarismus und der Demokratie und bekämpften diese von außen wie von innen. Zudem vertrat die kommunistische Linke ein Demokratieverständnis, dass sich nur schwerlich in die Schranken der Weimarer Verfassung einpassen ließ. Damit hatte es der Parlamentarismus Weimars schon allein wegen der gesellschaftspolitischen Realitäten schwer. Das Fehlen einer Sperrklausel hier als Ausgangspunkt für das Scheitern Weimars und den Horror des Nationalsozialismus auszumachen, ist historisch schlichtweg nicht haltbar. Es dennoch von 1945 bis heute als Argument gegen die Verwirklichung demokratischer Rechte in Stellung zu bringen fügt sich vielmehr in die weit verbreitete Grundtendenz der deutschen Nachkriegsgesellschaft ein, die Ursachen des NS-Terrorregimes mehr in systemischem Versagen als im eigenen Fehlverhalten zu suchen.
Ob das Bundesverfassungsgericht die Rechtfertigung der Sperrklausel weiter aufrechterhält, darf daher ebenso mit Spannung erwartet werden, wie die Beantwortung der Frage, ob diese zumindest in ihrer Höhe mit der Beseitigung der Grundmandatsklausel noch haltbar ist. Nach den jüngeren Entscheidungen über die verfassungswidrigen Sperrklauseln von 5% und 3% für die Europawahlen in den Jahren 201217 und 201418, ist zumindest erkennbar, dass das Karlsruher Gericht einen zunehmend sensiblen und kritischen Umgang mit Sperrklauseln pflegt. Auch betonte Karlsruhe indiesen Entscheidungen den schon früher aufgestellten Maßstab, dass eine einmal als zulässig angesehene Sperrklausel nicht für alle Zeiten als verfassungsrechtlich unbedenklich eingeschätzt werden darf. Insbesondere hänge diese Bewertung von veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen ab19 und zumindest diese sollten seit Einführung der Sperrklausel in den 1950er Jahren vorliegen.
Festigung weiterer Demokratiedefizite
Doch nicht nur die verschärfte 5%-Sperrklausel stellt ein Defizit für die Demokratie in Deutschland dar. Andere große Problemfelder bleiben von der Ampel und ihrer Reform erstmal unbeantwortet. Nach wie vor hat ein großer Teil der in Deutschland unter den Gesetzen lebenden Menschen nicht teil an der Demokratie. Etwa zehn Millionen in Deutschland lebende Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit sind vom Wahlrecht ausgeschlossen. Die Breitseite beleuchtete diesen Missstand in ihrer Sommersemesterausgabe 202220 ausführlich. Von demokratischer Mitbestimmung ebenso ausgenommen sind nach wie vor etwa 13 Millionen Minderjährige. Seit Jahren wird hier über ein Wahlrecht ab Geburt oder eine andere Einbeziehung dieser nicht repräsentierten Bevölkerungsgruppe diskutiert. Nicht zuletzt konstatieren wir auch noch 2023 ein andauerndes Problem der demokratischen Repräsentation von FINTA* Personen in den Parlamenten, denn diese sind immer noch und schon viel zu lange überwiegend von Männern besetzt.
Die Wahlrechtsreform schreibt diese Defizite leider unbehandelt fort. Auch wenn ihr primärer Zweck die Verkleinerung des Bundestags war, wäre sie ein passender Anlass gewesen, um in all diesen Fragen wichtige Schritte voranzukommen. Aus der vom Bundestag dafür parallel eingesetzten Wahlrechtskommission konnten jüngst keine konkreten Fortschritte vernommen werden. Damit bleiben trotz der umfangreichsten Reform des Wahlrechts seit Gründung der Bundesrepublik gravierende Demokratiedefizite bestehen. Gut möglich, dass sie damit erstmal für die nächsten Jahre gefestigt wurden.
Fußnoten:
- vgl. „CSU nennt Pläne „organisierte Wahlfälschung“, tagesschau.de vom 16.01.2023, abrufbar unter: https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/wahlrechtsrechts-reform-csu-101.html. ↩︎
- Bundestagswahlergebnisse 2021 einsehbar unter: https://www.bundeswahlleiter.de ↩︎
- Das Änderungsgesetz ist seit 13. Juni 2023 in Kraft. ↩︎
- Klarstellend bereits BVerfGE 6, 84 (90) im Jahr 1957. ↩︎
- Die Bundeswahlleiterin, Überhangmandate, abrufbar unter: https://www.bundeswahlleiter.de/service/glossar/u/ueberhangmandate.html, letzter Abruf: 12.04.2023. ↩︎
- BVerfGE 95, 335 ff. ↩︎
- BVerfGE 131, 316. ↩︎
- Der Vollausgleich wurde unter der Koalition von CDU/CSU und SPD im Jahr 2020 auf einen Ausgleich nach dem dritten Überhangmandat reduziert. Darüber und wegen anderer Änderungen ist eine abstrakte Normenkontrolle stand Mai 2023 noch beim BVerfG anhängig (Az.: 2 BvF 1/21). ↩︎
- Vgl. BGBl. 2023 I Nr. 147 vom 13.06.2023. ↩︎
- Mit der einzigen Ausnahme, dass parteiunabhängige Kandidat*innen bei Erststimmengewinn ein Mandat garantiert wird (§ 6 II BWahlG). ↩︎
- Std. Rspr. des BVerfG, vgl. BVerfGE 3; 19; 59, 119 (124); 95, 335 (349). ↩︎
- Vgl. nur BVerfGE 82, 322 (338). ↩︎
- BVerfGE 6, 84 (95). ↩︎
- Vgl. etwa Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 18. ↩︎
- 1924 (1): 6,5%; 1924 (2): 3,0%; 1928: 2,6%; 1930: 18,3%; 1932 (1): 37,4%; 1932 (2): 33,1%. ↩︎
- Vgl. Reichstagswalergebnisse-Endfassung, abrufbar un-
ter: https://www.bundestag.de/resource/blob/190456/
f8d637d1039a06a614cff0264f8b5d10/reichstagswahler-
gebnisse-data.pdf. ↩︎ - BVerfGE 129, 300. ↩︎
- BVerfGE 135, 259. ↩︎
- BVerfGE 129, 300 Rn. 90. ↩︎
- Abrufbar unter: https://breitseite.akj-freiburg.de/sose-
2022/. ↩︎