Gorillas und ein Nazi

Gorillas: Wer für Lohn streikt, wird gefeuert. Über die Illegalisierung sogenannter „wilder“ Streiks.

Von Aenne

Breitseite-Ausgabe SoSe 2023

Dienstag, 25.04.2023 – vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg wurde die außerordentliche Kündigung von zwei Rider*innen des Lieferdienstes Gorillas wegen der Teilnahme an einem politischen und zudem sogenannten „wilden“ Streik im Oktober 2021 bestätigt. Rund 350 Beschäftigte hatten ihre Arbeit niedergelegt, um das Unternehmen zur rechtzeitigen und vollständigen Auszahlung der Löhne zu bewegen. „Die Beteiligung an den „wilden“ Streiks [ist eine] erhebliche​ arbeitsrechtliche​ Pflichtverletzung“​, heißt​ es​ in​ der​ Pressemitteilung des Gerichts.1
Das deutsche Streikrecht knüpft die Legalität eines Streiks an enge Voraussetzungen. Unter anderem bedarf es der Führung des Streiks durch eine tariffähige Gewerkschaft (faktisches Äquivalent zu den DGB-Gewerkschaften), ferner muss der Streik den Abschluss eines Tarifvertrages zum Ziel haben. Der sogenannte „wilde“ Streik, welcher ohne gewerkschaftliche Betreuung geführt wird, sowie der politische Streik, welcher andere Ziele als den Abschluss eines Tarifvertrags verfolgt, sind daher nach gefestigter Rechtsprechung nicht vom Streikrecht aus Art. 9 III GG geschützt.

Hans Carl Nipperdey, Nazi und Vater des „wilden“ Streiks

Zurück geht diese Rechtsprechung auf Hans Carl Nipperdey, welcher von 1954 bis 1963 Präsident des Bundesarbeitsgerichtes (BAG) war und das Streikrecht maßgeblich formte. Dass Nipperdey zuvor als zentrale Figur für die Anpassung des Arbeitsrechts an die NS-Ideologie agierte, gerät hierbei oftmals in Vergessenheit. Zu seinen Projekten zählten unter anderem die Entwicklung eines nationalsozialistischen Volksgesetzbuchs, welches das BGB ersetzen sollte, die Erarbeitung des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit, welches das Führerprinzip und somit die absolute Befehlsgewalt des Arbeitgebers im Betrieb etablierte, sowie die Beteiligung am Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften, der Durchsetzung der nationalsozialistischen Herrschaft durch das Zivilrecht.
Den Grundstein für das Verbot von dem sog. „wilden“ Streik setzte Nipperdey in einem Rechtsgutachten, welches er 1953 für die Bundesvereinigung der Deutscher Arbeitgeberverbände verfasste. Auf diesem Gutachten beruht das Urteil des BAG, welches sich 1963 erstmals mit der Rechtmäßigkeit von sog. „wilden“ Streiks befasste und hierbei explizit der Argumentation von Nipperdey folgte (BAG 1 AZR 428/62). Der​ starke​ Einfluss​ eines​ Nazis​ auf​ die​Rechtsprechung​ der Nachkriegszeit ist generell höchst problematisch. Da das Arbeitskampfrecht nicht gesetzlich geregelt ist, entfaltet die Rechtsprechung und somit deren nationalsozialistische​ Einflüsse​ hier​ besonders​ starke​ Wirkung. Im internationalen Vergleich, vor allem im Hinblick auf Frankreich, wo das Streikrecht neben dem „wilden“ Streik auch den politischen Streik und den Generalstreik beinhaltet, wird deutlich, wie restriktiv und unternehmensfreundlich das deutsche Streikrecht ausgelegt wird.

Prekäre Arbeitsbedingungen bei Lieferdiensten

Generell erscheint diese kommentarlos fortgeführte Rechtsprechung höchst fragwürdig. Besonders drastisch wirkt sie sich allerdings auf die hier exemplarisch betrachtete Lieferbranche aus, in welcher die klassistischen Auswirkungen des Verbots deutlich werden.
Die Branche zeichnet sich durch prekäre Arbeitsbedingungen aus. Ruhezeiten werden nicht eingehalten, Gesundheitsschutzmaßnahmen sind mangelhaft, Fahrräder sind nicht verkehrssicher und Gehälter werden oft, wie bei Gorillas geschehen, nur teilweise oder gar nicht ausgezahlt. Eine rechtliche Durchsetzung scheitert einerseits​ an​ der​ finanziellen​ Belastung​ eines​ Gerichtsprozesses, andererseits aber auch an der Dringlichkeit bestimmter Angelegenheiten. So geht es beispielsweise bei Blitzeis auf den Straßen weniger um die gerichtliche Bestätigung der Rechte von Rider*innen, als um die Erzwingung des sofortigen Handelns des Arbeitgebers, um Gesundheitsschäden zu verhindern. Ein gewerkschaftlich geführter Streik stellt in einer solchen Situation ebenfalls keine reale Handlungsmöglichkeit dar, da nicht der Abschluss eines Tarifvertrags gefordert wird. Der Streik wäre damit erneut rechtswidrig. Als einziges Druckmittel der Arbeitnehmer*innen bleibt der Entzug ihrer Arbeitskraft.

Nipperdey überwinden!

Inwieweit das Verbot von politischem und nicht gewerkschaftlichem Streik mit der Europäischen Sozialcharta (ESC) vereinbar ist, ist höchst fraglich. Art. 6 der Charta, welche​ Deutschland​ 1965​ ratifiziert​ hat,​ gewährt​ das​ Recht auf Kollektivhandlungen und damit unter anderem den Streik (Nr. 4). Dieses Recht beschränkt sich nach einhelliger Ansicht nicht nur auf gewerkschaftlich organisierten Streik mit dem Ziel eines Tarifabschlusses, sondern schützt auch den sogenannten „wilden“ Streik und steht somit im Widerspruch zu der nationalen Rechtsprechung.
Die ehemalige Gorillas-Riderin Duygu Kaya, deren Kündigung im oben genannten Urteil durch das LAG Berlin-Brandenburg bestätigt wurde, hat sich diese Klärung und damit im besten Fall die Abkehr von Nipperdeys Rechtsprechung zum Ziel gemacht. Inwiefern dies erreicht werden kann, ist allerdings noch unsicher. Ein Verstoß gegen die ESC kann nur in Form einer Kollektivbeschwerde gerügt werden. Beschwerdebefugt sind hierbei internationale NGOs sowie Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften. Das Interesse von Gewerkschaften, ihr Streikmonopol zu beseitigen, erscheint allerdings eher gering.
Im ersten Schritt hat Duygu Kaya mit ihrem Anwalt Benedikt Hopmann eine Nichtzulassungsbeschwerde nach § 72a ArbGG erhoben und möchte damit den Weg zum BAG einschlagen. Ihr weiterer Weg sowie der künftige Umgang der deutschen Gerichte mit diesem Überbleibsel aus der NS-Zeit bleiben spannend.

Endnote:

  1. https://www.berlin.de/gerichte/arbeitsgericht/presse/ pressemitteilungen/2023/pressemitteilung.1322340.php ↩︎