Was bleibt von Lützi?

Von Mike Check

Breitseite-Ausgabe SoSe 2023

Lützerath wurde diesen Januar nach über zwei Jahren Besetzung endgültig geräumt. Hunderte von Menschen hatten in den vorangegangenen Wochen und Monaten mit aller Kraft versucht, die Räumung zu verhindern. Es wurden Ausweichcamps in umliegenden Dörfern geschaffen, Barrikaden errichtet und sogar ein Tunnel gegraben, in dem bis zuletzt zwei Aktivisti ausharrten. Tausende Menschen stapften am 14. Januar 2023 im Regen durch den Schlamm, um sich mit den Aktivisti im Dorf zu solidarisieren. Zeitgleich fanden in vielen Städten deutschlandweit Demonstrationen statt, auf denen lauthals „Lützi bleibt!“ geschrien wurde. Trotzdem war nach wenigen Tagen alles vorbei. Die Räumung dauerte nicht wie vermutet mehrere Wochen, sondern wurde am 16. Januar 2023 mit dem Verlassen des Tunnels der beiden letzten Aktivisti nach nur fünf Tagen beendet. Dass die Räumung so schnell erfolgte, ist vor allem durch das Vorgehen der Polizei zu erklären, welches das Kölner Komitee für Grundrechte und Demokratie in einem Bericht mit dem aussagekräftigen Titel „Entscheidung für Gewalt“ ausgewertet hat.1 In kürzester Zeit wurden Strukturen zerstört, die viele Aktivisti monatelang aufgebaut und zu ihrem Zuhause gemacht hatten. Menschen wurden weggetragen, Bäume gefällt und die letzten Häuser abgerissen. Damit steht der Abbaggerung der Millionen an Tonnen Braunkohle unter Lützerath nichts mehr im Weg.

Also war all die Anstrengung vergeblich?

Was in Lützerath passiert ist, ist frustrierend und vor allem besorgniserregend. Es zeigt, wie weit wir von echtem Klimaschutz entfernt sind und von einer auf Fakten basierenden Debatte über die richtigen Schritte hin zu einer klimagerechten Welt. Es zeigt, wie groß die Macht​ einflussreicher​ Konzerne​ wie​ RWE​ ist​ und​ wie​ wenig die Politik dem entgegenzuhalten hat. Und zuletzt zeigt es, wie einfach Aktivismus, der über das stille Unterschreiben von Petitionen und Demonstrieren an Freitagen hinausgeht, stigmatisiert und als illegitim dargestellt werden kann.
Trotzdem hat der Protest in Lützerath etwas bewegt. Die Anstrengungen der Aktivisti, ihr Mut und ihr Durchhaltevermögen haben dafür gesorgt, dass die Medien mehrere Wochen lang über Lützerath berichteten und erneut die Frage aufgeworfen wurde, wie wir die Klimakrise aufhalten können. Politiker*innen, RWE und andere an der Räumung beteiligte Unternehmen mussten sich für ihre Entscheidungen rechtfertigen und konnten diese nicht ohne Widerspruch durchsetzen. Ganz aktuell zeichnet sich noch ein weiterer Erfolg des Protests in Lützerath ab: RWE will sich Berichten des Spiegel zufolge von dem EU-weit größten LNG-Terminalprojekt vor Rügen zurückziehen unter anderem wegen der Erfahrungen in Lützerath. Dadurch könnte es zumindest zu einer Verzögerung des Baustarts des Terminals kommen.2

Gelebte Solidarität im Camp

Vor allem aber hat sich in Lützerath etwas gezeigt, was in den Medien weniger Aufmerksamkeit erfahren hat. Und zwar, wie ein solidarisches Zusammenleben aussehen kann. Den Aktivisti ging es nicht allein um die Bewahrung dieses einen Ortes, sondern auch darum zu zeigen, wie Klimakrise und Kapitalismus verknüpft sind und dass wir neue Formen des Zusammenlebens schaffen müssen und können, um irgendwann in einer gerechten Welt zu leben.
Im Dorf konnte sich jede Person, unabhängig davon ob sie nur ein paar Tage oder mehrere Monate vor Ort war, nach ihren Fähigkeiten einbringen. Es gab keine feste Aufgabenverteilung oder eine Höherstellung bestimmter Tätigkeiten gegenüber anderen. Die Arbeitim Camp, besonders die Reproduktionsarbeit,3 wurde nicht weniger wertgeschätzt als beispielsweise die Beteiligung an Aktionen. Jeden Tag wurde gekocht, gespült, die Toiletten geputzt, Workshops und Skillshares vorbereitet. Jede Nacht gab es mehrere Sicherheitsschichten, bei denen Menschen freiwillig mehrere Stunden um das Camp liefen. In den Plena konnten alle Vorschläge und Kritikpunkte anbringen und damit das Leben im Dorf mitgestalten. Natürlich war Lützerath keine heile Welt, in der sich strukturelle Probleme nicht bemerkbar machten. Auch hier wurde bei der Verteilung​ der​ verschiedenen ​Aufgaben ​der ​Einfluss​ des​ Patriarchats deutlich. Und besonders als Neuankömmling fühlte sich das Camp nicht gerade nach einer offenen und herzlichen Gemeinschaft an, zumal die länger im Dorf lebenden Aktivisti nachvollziehbarerweise großen Wert auf Anonymität legten.
Das Entscheidende war aber, dass über diese Problematiken offen gesprochen wurde. Im Plenum ging es beispielsweise ausführlich um das Thema mansplaining4 und darum, dass sich manche Menschen mehr Gemeinschaft im Camp wünschten. Besonders in der Vorbereitung auf die Rückkehr einiger Aktivisti aus der Gefangenensammelstelle wurde deutlich, wie rücksichtsvoll und mitfühlend die Campbewohner*innen miteinander umgingen. So wurden Räume geschaffen, damit sich die Menschen, die in Aktion waren, ausruhen und über ihre Erlebnisse sprechen konnten.
Dieser Zusammenhalt und diese Solidarität war bis zum Ende in Lützerath zu spüren. Beim Barrikadenbau, bei dem sich hunderte Menschen in Menschenketten beteiligten, bei Gesprächen in Bezugsgruppen5 und während der Räumung, bei der sich Aktivisti an den Händen hielten und bis zuletzt gegenseitig Mut machten.

Das bleibt von Lützi

Lützerath ist nicht geblieben, trotz aller Anstrengungen und Bemühungen, trotz vernünftiger Argumente und Appelle an die Politik. Umso wichtiger ist es, dass der Kampf für eine gerechte Welt und den Schutz unseres Planeten nicht aufhört, sondern solidarisch und entschlossen weitergeht. Lützerath hat bewiesen, wie viele Menschen bereit sind, sich einzusetzen und dass es Konzepte für ein schöneres und zukunftsfähiges Zusammenleben gibt. Auch wenn Lützi nicht bleibt, bleibt unser Mut und unser Kampfgeist, ein gutes Leben für alle einzufordern.

Endnoten:

  1. http://www.grundrechtekomitee.de/fileadmin/user_upload/Entscheidung_fuer_Gewalt._Bericht_Demobeobachtung_Luetzerath_2023.pdf ↩︎
  2. LNG-Terminal auf Rügen: Der lange Schatten von Lützerath – DER SPIEGEL ↩︎
  3. Reproduktionsarbeit bezeichnet Tätigkeiten jenseits der Lohnarbeit, die zur Erhaltung dr menschlichen Arbeitskraft notwendig dinf, insbesondere Arbeit im Haushalt. Sie wird primär von Frauen geleistet, ist unbezahlt und bleibt oft unsichtbar. ↩︎
  4. Mansplaining bezeichnet Erklärungen eines Mannes, der davon ausgeht, er wüsste mehr über den Gegenstand als die – meist weibliche – Person, mit der er spricht. ↩︎
  5. Bezugsgruppen sind kleine Gruppen von Aktivisti, die beispielsweise zusammen in Aktion gehen oder gemeinsam demonstrieren. ↩︎