von Felix Frank
Breitseite-Ausgabe WiSe 2022/2023
Das Amtsgericht Flensburg hat mit Urteil vom 06.12.2022 eine*n Angeklagte*n vom Vorwurf des Hausfriedensbruchs gem. § 123 I StGB freigesprochen.1 Diese*r soll im Februar 2021 im Flensburger Bahnhofswald einen Baum besetzt haben, um dessen Rodung zugunsten eines Hotelprojekts der InterCity-Kette zu verhindern. Das Gericht kam zwar zu der Überzeugung, dass der*die Angeklagte den Tatbestand erfüllt hatte, stellte aber fest, dass diese*r gerechtfertigt im Sinne des § 34 StGB handelte („rechtfertigender Notstand“). Angesichts der ausführlichen Entscheidungsgründe und dem lehrbuchhaften Aufbau kann die Lektüre des Urteils auch Anfänger*innen durchaus empfohlen werden. Der folgende Beitrag soll die wichtigsten Passagen des Urteils zusammenfassen.
Eine Tat ist gem. § 34 StGB gerechtfertigt – steht also nicht im Widerspruch zur Rechtsordnung – wenn eine gegenwärtige Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut vorliegt (Notstandslage) und die Tat geeignet ist, die Gefahr abzuwenden, dabei das mildeste Mittel darstellt und eine Abwägung ergibt, dass das geschützte Interesse das beeinträchtigte Interesse wesentlich überwiegt und die Tat ein angemessenes Mittel darstellt, um die Gefahr abzuwenden.
Zur Notstandslage führt das Gericht aus: „Das notstandsfähige Rechtsgut ist hier der Klimaschutz als ein anderes Rechtsgut i.S.d. § 34 StGB. Er findet seine verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 20a GG. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet diese Staatszielbestimmung die staatlichen Organe in der aktuellen Situation zu einer Reduktion von Treibhausgasemissionen und zielt insofern auch auf die Herstellung von Klimaneutralität ab. […] Das Gericht geht mit der ganz überwiegenden Auffassung in der strafrechtlichen Rechtsprechung und dem Schrifttum davon aus, dass § 34 StGB sowohl Rechtsgüter des Einzelnen als auch solche der Allgemeinheit umfasst.“2 § 34 StGB sei mit Blick auf Art. 20a GG und die Rechtsprechung des BVerfG auszulegen (Stichwort: intertemporale Freiheitssicherung)3.
Auch die Gegenwärtigkeit der Gefahr erkennt das Gericht an und führt exemplarisch „die mit der aktuellen globalen Erderwärmung und dem nachweisbaren Klimawandel verbundenen negativen Folgen wie Hitzewellen, Überschwemmungen sowie Wirbelstürmen“4 an. Gegenwärtig sei eine Gefahr auch dann, „wenn zwar der weitere Schadenseintritt möglicherweise nicht unmittelbar bevorsteht, er jedoch nur noch durch sofortiges Handeln abgewendet werden kann“5. Hinsichtlich der Erforderlichkeit der Notstandshandlung betont das Gericht, dass es dem*der Angeklagten im vorliegenden Fall nicht ausschließlich darum ging, öffentlich Aufmerksamkeit auf das Thema Klimaschutz zu lenken, sondern die Handlung selbst in einem unmittelbaren Wirkungszusammenhang zum Klimaschutz steht (Verweilen auf einem Baum um genau diesen Baum vor Rodung zu schützen). Die Tatsache, dass die Handlung des*der Angeklagten alleine nicht ausreichen wird, um die globale Erderwärmung zu stoppen, lasse an deren Geeignetheit nicht zweifeln, da es sich beim Klimawandel um eine komplexe und langfristige Herausforderung handele, der nur mit einer Vielzahl von Maßnahmen begegnet werden könne. Hinsichtlich der Frage, ob die Tat das mildeste Mittel gewesen sei, erkennt das Gericht zunächst den Grundsatz des BGH an, dass Handlungen nicht erforderlich sind, wenn staatliche Hilfe rechtzeitig in Anspruch genommen werden kann6 oder wenn die Lösung der „Konfliktlage zwischen dem Erhaltungsgut und dem Eingriffsgut einem besonderen Verfahren oder einer bestimmten Institution vorbehalten ist“7. Dem folgend ließe sich im vorliegenden Fall wohl leicht argumentieren, dass zur Lösung des vorliegenden Konflikts das Verwaltungsgericht zuständig sei, in dessen Verfahren die Genehmigung der Rodung hätte angefochten werden können. Das Amtsgericht Flensburg betont jedoch, dass auch der Begriff der Erforderlichkeit in § 34 StGB mit Blick auf Art. 20a GG und den Grundrechten auszulegen sei. Daher müssten „hohe Anforderungen an die objektiv gleiche Eignung von Handlungsalternativen zu stellen“ sein und es sei „dem Angeklagten gleichsam ein gewisser begrenzter Einschätzungsspielraum bei seiner ex ante erfolgenden Beurteilung der gleichen Eignung einzuräumen.“8 Im vorliegenden Fall sei demnach entscheidend gewesen, dass der*die Angeklagte bereits weit vor der Baumbesetzung viele Schritte unternommen hatte, um die Rodung zu verhindern. Beispielhaft werden hierfür Mahnwachen und Demonstrationen genannt, außerdem hatte der*die Angeklagte bereits Gespräche mit dem Bauherrn geführt. Auch eine Klage vor dem Verwaltungsgericht Schleswig wurde erhoben. Weiterhin berücksichtigt das Gericht, dass der*die Angeklagte „eine unumkehrbare Maßnahme, nämlich die Rodung eines sehr alten gewachsenen Baumbestandes, zu verhindern suchte. Im Unterschied beispielsweise zur Blockade von Verkehrsmitteln, welche bei jeder Nutzung klimaschädliche Emissionen verursachen, deren Blockade jedoch nur eine vorübergehende und mithin kurzfristige Nichtnutzung bewirken kann, ging es vorliegend um den Erhalt von Bäumen deren nachhaltiger positiver Einfluss auf die Verringerung von Treibhausgasen wissenschaftlich erwiesen ist und deren Rodung unumkehrbar war.“9
Naturgemäß nimmt die Interessenabwägung den größten Anteil der Urteilsgründe ein. Besondere Bedeutung spielen dabei der hohe Wert des Klimaschutzes, den das Gericht wiederum aus der Verfassung herleitet, sowie die Tatsache, dass vorliegend nicht Wohnungen oder Geschäftsräume von der Tat betroffen waren, sondern „nur“ ein Waldgelände, weshalb die Privatsphäre der Hausrechtsinhaberin weniger gefährdet war. Letztlich betrachtet das Gericht die Tat auch als angemessen. Zudem war das subjektive Rechtfertigungselement erfüllt.
Die Entscheidung aus Flensburg feuert die rechtswissenschaftliche Diskussion um einen „Klimanotstand“ weiter an.10 Jana Wolf bezeichnet den Freispruch im Verfassungsblog als „überraschendes Urteil“ und „juristisches Einhorn“.11 Die Staatsanwaltschaft legte Sprungrevision zum Oberlandesgericht Schleswig ein, deren Erfolg wohl nicht allzu unwahrscheinlich ist. Die Baustelle im Flensburger Bahnhofswald ruht zurzeit – das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht gab im Juli 2022 einem Eilantrag des BUND statt und verfügte einen Baustopp.12
Fußnoten:
1 Das Urteil (Az. 440 Cs 107 Js 7252/22) ist frei zugänglich unter www.gesetze-rechtsprechung.sh.juris.de.
2 AG Flensburg, Urteil v. 06.12.2022, Az. 440 Cs 107 Js 7252/22.
3 Siehe insb. BVerfG, Beschl. v. 24.3.2021 – 1 BvR 2656/18, 1 BvR 78/20, 1 BvR 96/20, 1 BvR 288/20, NJW 2021, 1723.
4 AG Flensburg, a.a.O.
5 AG Flensburg, a.a.O.
6 BGH, Urt. v. 3.2.1993 – 3 StR 356/92, NJW 1993, 1869, 1870.
7 BGH, Beschl. v. 28.6.2016 – 1 StR 613/15, NJW 2016, 2818.
8 AG Flensburg, a.a.O.
9 AG Flensburg, a.a.O.
10 Grundlegend hierzu Klein, Die Rechtfertigung von Straftaten angesichts der Klimakrise, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/die-rechtfertigung-von-straftaten-angesichts-der-klimakrise/ , zuletzt aufgerufen am 28.12.22; ablehnend noch AG Recklinghausen, Urt. v. 12.08.2021, Az. 32 Cs-33 Js 486/20-125/21, BeckRS 2021, 27893; zur Rechtfertigung durch Grundrechte siehe auch AG Mönchengladbach-Rheydt, Urt. v. 14.03.2022, Az. 21 Cs-721 Js 44/22-69/22, abrufbar unter https://justiz.nrw.de
11 Wolf, Klimaschutz als rechtfertigender Notstand, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/klimaschutz-als-rechtfertigender-notstand/, zuletzt aufgerufen am 28.12.22.
12 Tran, Flensburger Bahnhofswald: Gericht stoppt Hotel-Bau, abrufbar unter https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Flensburger-Bahnhofswald-Gericht-stoppt-Hotel-Bau,bahnhofswald172.html , zuletzt aufgerufen am 28.12.22.