Gleich behandeln!

Wie § 87 Aufenthaltsgesetz den Zugang zu medizinischer Versorgung versperrt.

von Anne

Breitseite-Ausgabe WiSe 22/23

Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus leben prekär. Sie müssen ständig Angst vor Abschiebung haben, können kein reguläres Arbeitsverhältnis eingehen, kein Konto eröffnen, keinen Mietvertrag unterschreiben, nicht anzeigen, wenn sie Opfer einer Straftat wurden. Zumindest eine medizinische Grundversorgung steht ihnen zu. Theoretisch. Praktisch gibt es dabei ein Problem: § 87 Aufenthaltsgesetz (AufenthG).

Theorie und Praxis

In Deutschland haben alle Menschen bei akuter Krankheit, akutem Schmerzzustand sowie Schwangerschaft und Geburt einen Anspruch auf eingeschränkte medizinische Leistungen. Das gilt nach §§ 1 Abs. 1 Nr. 5 in Verbindung mit §§ 4, 6 Asylbewerberleistungsgesetz auch für Menschen ohne Aufenthaltstitel. Diese müssen sich dafür beim Sozialamt einen Behandlungsschein ausstellen lassen und bei dem:der behandelnden Ärzt:in vorlegen. Im Regelfall werden nur dann die Behandlungskosten übernommen. Der Haken an der Sache: § 87 AufenthG schreibt für öffentliche Stellen wie das Sozialamt eine Meldepflicht vor. Bei Verdacht darauf, dass eine Person keinen Aufenthaltstitel besitzt, muss das Amt deren Daten an die zuständige Ausländer:innenbehörde übermitteln.

Nebenwirkungen und Risiken

Für Betroffene würde dies unmittelbar in einer Abschiebung resultieren, sodass der Weg über die Behandlungsscheine der Sozialämter kaum gewählt wird. Als Alternativen bleiben nur die eigenständige Zahlung teils hoher Behandlungskosten sowie die umfassende Vermeidung medizinischer Behandlung, auch wenn sie notwendig wäre.
Weil dadurch Prävention und Früherkennung nicht möglich sind, landen beispielsweise Krebs- und Diabeteskranke als vermeidbare medizinische Notfälle im Krankenhaus. Zu diesem Zeitpunkt sind teils schon irreparable Schäden eingetreten, außerdem verursachen solche Notfallbehandlungen enorme Kosten.
Medizinische Notfälle sind ein Sonderfall: Sie müssen behandelt werden. Um das zu gewährleisten, können Krankenhäuser deren Behandlungskosten direkt beim zuständigen Sozialhilfeträger abrechnen. Festgesetzt ist das im sogenannten „Nothelfer:innenparagraph“ § 6a Asylbewerberleistungsgesetz. Dabei ist auch die Identität der Betroffenen geschützt: Ärztliches Personal unterliegt der Schweigepflicht, das Sozialamt darf deshalb nach § 88 Abs. 2 AufenthG die Personendaten nicht weitergeben, wenn es vom Krankenhaus statt den Betroffenen selbst kontaktiert wird.
Aber auch hier sieht die Praxis weit weniger rosig aus: Die Notfall-Kostenübernahme greift nur dann, wenn die Erlangung eines Behandlungsscheins nicht möglich gewesen wäre. Direkt abrechnen kann das Krankenhaus damit nur Behandlungen, die außerhalb der Amts-Öffnungszeiten, d.h. wochenends oder nachts vorgenommen werden. Auch muss das Krankenhaus Bedürftigkeit des:der Patient:in und örtliche Zuständigkeit des Sozialamts beweisen, was sich ohne Dokumente wie Kontoauszug oder Mietvertrag als schwierig erweist. Weil Krankenhäuser das Scheitern der Erstattungsanträge fürchten, werden Menschen ohne Aufenthaltstitel auch in Notsituationen teils nur nach Unterzeichnung einer Kostenübernahme behandelt. Auch kommt es vor, dass Ärzt:innen entgegen ihrer Schweigepflicht melden, dass die Patient:innen sich nicht legal in Deutschland aufhalten.
Selbst in zuweilen lebensbedrohlichen Situationen können Menschen ohne Aufenthaltstitel medizinische Dienste somit nur in der Angst wahrnehmen, letztlich auf den Kosten sitzenzubleiben oder vom Krankenbett direkt in Abschiebehaft zu kommen.

Symptombehandlung statt Strukturveränderung

Abhilfe schaffen zivile Initiativen wie Medinetze und Clearingstellen. Diese versuchen einerseits, Menschen nach Möglichkeit ins Gesundheitssystem zu (re)integrieren. Außerdem gibt es begrenzte Budgets, um Notfallbehandlungen anonym zu finanzieren. Das lindert Symptome, Heilung ist es nicht: Die Initiativen gibt es nicht überall, ihre persönlichen und finanziellen Ressourcen sind begrenzt, sodass auch ihr Fortbestehen nicht gesichert ist. Gerade bei staatlicher Finanzierung hängt diese am wankelmütigen Wohlwollen der Regierungsmehrheit. Auch gibt es keinen einklagbaren rechtlichen Anspruch auf die Gelder.
Vor diesem Hintergrund wird schon lange die Abschaffung des § 87 AufenthG gefordert. Doch schon Reformvorschläge der Grünen 2006 und der SPD 2009, mit denen lediglich bestimmte öffentliche Stellen – darunter Sozialbehörden – aus der Meldepflicht ausgenommen werden sollten, scheiterten im Bundestag. Nur zu einer Aufhebung der Meldepflicht für Schulen konnte sich die schwarz-gelbe Regierung 2011 durchringen, sodass zumindest Kindern mit Eltern ohne Aufenthaltstitel zur Schule gehen können. Im neuen Koalitionsvertrag wurde nun aber eine Überarbeitung der Meldepflichten angekündigt. Damit reagiert die Ampelregierung auf den jahrelang ausgeübten Druck zivilgesellschaftlicher Initiativen, namentlich des aus über 80 Organisationen bestehenden Bündnisses „#GleichBeHandeln“. Dessen Petition zur Abschaffung des § 87 AufenthG hatten über 26.000 Menschen unterschrieben.

Rechtswidrig auf allen Ebenen

Eine Überarbeitung ist dringend nötig, liegt doch der Schluss nahe, dass § 87 AufenthG gleich gegen mehrere elementare Rechte verstößt: Art. 12 des UN-Sozialpakts garantiert medizinische Grundversorgung auch für Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus. Bei der turnusmäßigen Überprüfung 2018 stellte der UN-Sozialausschuss fest, dass § 87 AufenthG hiergegen und gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 2 UN-Sozialpakt verstoße. Auch auf EU-Ebene ist mit Art. 35 Grundrechtecharta das Recht auf Zugang zu Gesundheitsvorsorge und ärztliche Versorgung verbrieft, das gleichermaßen für Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus gilt. Und auch die Grundrechte stehen der aktuellen Regelung entgegen: Das Grundgesetz beinhaltet das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Dieses hat das Bundesverfassungsgericht in einer seiner Hartz-IV-Entscheidungen aus der Menschenwürdegarantie des Art. 1 I GG und dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 III GG hergeleitet.
Das Recht setzt fest, dass der Staat ein gewisses Maß bei der Sicherung der physischen und kulturellen Lebensgrundlage nicht unterschreiten darf. Dazu gehört insbesondere ein Mindestmaß an Gesundheitsversorgung. Weil es sich um ein Existenzminimum handelt, darf es auch nicht faktisch beschränkt oder unter Bedingungen gestellt werden. Genau das bewirkt jedoch die aktuell gültige Meldepflicht.
Ferner liegt angesichts der gravierenden Folgen ein besonders schwerer Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Betroffenen vor. Dieses ist Teil des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 I in Verbindung mit Art. 1 I GG und dann beeinträchtigt, wenn der:die Einzelne nicht über die Verwendung seiner:ihrer persönlichen Daten bestimmen kann.
Bei § 87 AufenthG liegt aber eine Zweckentfremdung der Daten vor: Die Betroffenen geben sie eigentlich an, um eine Kostenerstattung vom Sozialamt zu bekommen, stattdessen werden sie verwendet, um Ausländer:innenbehörden über illegal in Deutschland Lebende zu informieren.
Außerdem könnte das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 II GG verletzt sein. Dieses Grundrecht dient eigentlich nur der Abwehr staatlicher Eingriffe in die physische Integrität und begründet unmittelbar keinen Anspruch auf medizinische Behandlung. Im Fall eines tödlich erkrankten Patienten durchbrach das Bundesverfassungsgericht jedoch diesen Grundsatz: Es stellte fest, dass der Patient aus Art. 2 II GG ausnahmsweise ein aktives Recht darauf hat, dass der Staat die Kosten einer vielversprechenden Behandlungsmethode übernimmt, auch wenn diese nicht von der Krankenversicherung gedeckt wäre. Offen ist, ob das Bundesverfassungsgericht dies auch ausweitend für Menschen ohne Aufenthaltstitel annehmen würde.
Dies wird sich wohl in naher Zukunft zeigen: Die Menschenrechtsorganisation „Gesellschaft für Freiheitsrechte“ unterstützt aktuell einen von § 87 AufenthG betroffenen herzkranken Mann aus dem Kosovo dabei, die Stadt Frankfurt a. M. auf Zugang zur Gesundheitsversorgung zu verklagen. Im selben Fall wurde auch eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erhoben mit dem Ziel, dass dieses die Norm für verfassungswidrig erklärt. Zuvor hatten mehrere Gerichte den Eilantrag des Klägers auf medizinische Behandlung zurückgewiesen. Begründung: Name und Anschrift des Klägers fehlten. Das jedoch nicht ohne Grund, denn auch Gerichte als öffentliche Stellen wären aufgrund des § 87 AufenthG verpflichtet, die Daten des Klägers an die Ausländer:innenbehörde weiterzuleiten. Damit tun sich auch weitere potenzielle Grundrechtsverletzung durch § 87 AufenthG auf – das Recht auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 101 Abs. 1 GG und auf effektiven Rechtsschutz gem. Art. 19 Abs. 4 GG.

Alles für alle

Rechtlich ist die Norm höchst fragwürdig. Vor welchem Hintergrund sie entstanden ist, ist unschwer zu erkennen: Die Meldepflicht wurde 1990 eingeführt. Zu dieser Zeit prägten Panikmache vor unkontrollierter Migration und rassistische Ressentiments die öffentliche Debatte besonders stark. Resultat waren zahlreiche Verschärfungen des Asylrechts. Damit fügt sich die Norm nahtlos in ein heute fortwirkendes Gefüge ein, das Migration durch Abschreckung verhindern soll, das elementare Ressourcen ganzen Gruppen vorenthält und zum Privileg der Wenigen erklärt und damit Krankheit, Ausgrenzung und Tod der Betroffenen in Kauf nimmt.
Kein Mensch kann ohne Gesundheitsversorgung leben. Sie muss deshalb allen zustehen, umsonst und uneingeschränkt. Die Abschaffung des § 87 AufenthG ist ein erster Schritt dahin.