Stuttgarter Salami-Taktik

Die Streichung der Ruhetage im juristischen Staatsexamen sollte möglichst geräuschlos ablaufen. Stattdessen aber entbrannte eine bundesweite Debatte über die Entscheidung des baden-württembergischen Justizprüfungsamtes. Der Beitrag fasst die Ereignisse der vergangenen Monate zusammen und rekonstruiert die intransparente und undemokratische Kommunikation seitens des Justizministeriums.

Von Jonathan

Breitseite-Ausgabe SoSe 2023

Im Herbst 2022 wurde bekannt, dass die sechs schriftlichen Prüfungen des juristischen Staatsexamens künftig in einem Zeitraum von nur acht, statt wie bislang zehn Tagen geschrieben werden sollen. Dies bedeutet den Wegfall von zwei Ruhetagen, die üblicherweise zwischen den Klausuren eingeplant waren (die Breitseite berichtete).
Das zuständige Landesjustizprüfungsamt (LJPA), eine Behörde im Geschäftsbereich des Landesjustizministeriums, begründete diesen Schritt mit organisatorischen Erwägungen, insbesondere der Sorge, dass nicht an allen Prüfungsorten ausreichende Räumlichkeiten für zehn Tage zur Verfügung stehen würden. Die Streichung der Ruhetage erscheint insofern bedenklich, als bereits heute die psychische Belastung von Jurastudierenden auf einem beunruhigenden Niveau liegt; hinzu kommen Schmerzen durch Sehnenscheidenentzündungen, da alle Klausuren handschriftlich verfasst werden müssen.1 Doch diese Sorgen werden im Justizministerium Baden-Württemberg nicht geteilt. Auf eine Anfrage der Breitseite teilte Anna Härle, Pressesprecherin des Ministeriums, nur knapp mit: „Negative Auswirkungen auf die körperliche und mentale Gesundheit der Prüflinge ​erwarten ​wir ​nicht.“

Informationspolitik nach dem Zufallsprinzip

Unter Jurastudierenden in Baden-Württemberg, die auf die Änderung aufmerksam geworden waren, löste die Streichung der Ruhetage Protest aus. Nachdem der akj Freiburg sowie die Kritischen Jurist*innen Heidelberg eine gemeinsame Stellungnahme2 verfasst sowie eine Petition3 initiiert hatten, folgten Stellungnahmen und Solidarisierungen, unter anderem vom Bundesvorstand der Neuen Richtervereinigung4, die das Vorgehen des LJPA Baden-Württemberg kritisierten.
Dass die Streichung der Ruhetage nicht nur Baden-Württemberg betrifft, war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht bekannt. Dies erfuhr die Öffentlichkeit erst wenig später zufällig durch eine Pressemitteilung des Rings Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS). In einem Gespräch mit den CDU-nahen Studierendenvertreter*innen habe die Landesjustizministerin Marion Gentges (CDU) mitgeteilt, die Verkürzung des Prüfungszeitraums basiere auf einer Absprache aller Bundesländer, die am sogenannten Ringtausch der Examensklausuren teilnehmen. Betroffen von den Änderungen waren damit viel mehr Studierende, als bislang angenommen: Die Entscheidung berührte alle Bundesländer mit Ausnahme Bayerns, das schon in der Vergangenheit – mit Ausnahme des Wochenendes – keine Ruhetage gewährte.
Doch nicht nur die Anzahl der betroffenen Jurastudierenden nahm zu – auch die Begründung des LJPA war um zwei Argumente reicher. So konnte die Stuttgarter Behörde für die Streichung der Ruhetage nun darauf verweisen, dass aus Gründen der Fairness eine Angleichung an die Prüfungsbedingungen in den anderen Bundesländern erfolgen soll. Weiterhin wurde angeführt, die beiden Ruhetage unter der Woche wären mit Blick auf die Einführung des computergestützten E-Examens​ohnehin​überflüssig.​Außen​vor​bleibt​dabei,​ dass die Belastung der Studierenden auch bei getippten statt geschriebenen Klausuren durch das Streichen von Ruhetagen erhöht wird. Zudem ist das E-Examen in vielen Bundesländern noch Zukunftsmusik. In Baden-Württemberg startet die neue Prüfungsform nach aktuellen Planungen des LJPA frühestens im Jahr 2026 die Streichung der Ruhetage erfolgt jedoch bereits ab Herbst 2023. Womöglich war es dieser Umstand, der Justizministerin Gentges dazu veranlasste, im oben erwähnten Gespräch mit dem RCDS eine Abkehr Baden-Württembergs von der gemeinsamen Vereinbarung der Bundesländer zu erwägen. So verkündete die Landesvorsitzende des RCDS, Noëlle Drtil, nach dem Gespräch stolz: „Wir freuen uns, dass sich Justizministerin Gentges MdL offen zeigte und bereit ist, sich für einen baden-württembergischen Sonderweg mit drei Ruhetagen einzusetzen.“5 Drei Ruhetage meint dabei die beiden Tage des Wochenendes plus einen weiteren Ruhetag. Tatsächlich bestätigte das Justizministerium später, dass „unter Berücksichtigung der besonderen Belange der Studierenden jedenfalls bis zu einem Wechsel in das elektronische Prüfungsformat ein klausurfreier Tag in der zweiten Prüfungswoche beibehalten wird“.6

Jeden Tag eine andere Begründung

Demnach wird auch in der anstehenden Examenskampagne​ im ​Herbst​ 2023 ​ein​ Ruhetag​ gewährt.​Die​ offizielle Terminübersicht des LJPA bestätigt dies und liefert das letzte Rädchen der Stuttgarter Salamitaktik. Dort heißt ​es:​„Aufgrund​ des​ bundesweiten ​Warntages ​findet die Aufsichtsarbeit Nr. 6 in der Kampagne Herbst 2023 am Mittwoch und nicht wie in vorherigen Kampagnen am Donnerstag statt.“7 Die Kürzung von zwei auf einen Ruhetag wird damit weder mit fehlenden Raumkapazitäten oder der Einführung des E-Examens, noch mit den geplanten länderübergreifenden Anpassungen begründet – stattdessen wird nun auf den bundesweiten Warntag als singuläres, von außen kommendes Ereignis verwiesen: Quasi ein Fall höherer Gewalt, mit dem das LJPA nichts zu tun habe. Dass der Ruhetag nach den Plänen des LJPA ohnehin bereits im Herbst 2023 weggefallen wäre, verschweigt die Terminübersicht​ geflissentlich.
Die Affäre um die Streichung der Ruhetage wirft ein erschreckendes Licht auf die Kommunikationspolitik des LJPA und des Landesjustizministeriums. Nur durch Zufall wurden Studierende im Herbst 2022 überhaupt auf die anstehende Änderung aufmerksam; eine aktive Information seitens des LJPA an die Studierenden oder ihre Vertreter*innen erfolgte nicht. Dabei hatten die Justizminister*innen der am Ringtausch beteiligten Länder die Straffung der Examenszeiten nach Informationen des Online-Mediums Jurios bereits auf einer Tagung im Mai 2022 beschlossen.8 Wäre es nach den Plänen des LJPA gegangen, hätten die Studierenden die Änderung wohl gar nicht bemerkt. Und selbst dann, als das Thema Aufmerksamkeit erlangte, kommunizierte das Land nicht offen, sondern schob immer neue Gründe für die Streichung der Ruhetage nach. Die Antwort des Justizministeriums auf eine Presseanfrage der Breitseite aus dem November 2022 muss rückblickend als unvollständig, wenn nicht sogar als irreführend bezeichnet werden. Als Grund für die Streichung nannte Pressesprecherin Härle lediglich die fehlenden Raumkapazitäten; auf die Frage der Breitseite nach dem Ablauf des Entscheidungsprozesses teilte sie mit: „Der Entscheidung ging eine enge Abstimmung im Ständigen Ausschuss voraus. Dieses mit der Präsidentin des Landesjustizprüfungsamts und acht weiteren Mitgliedern […] besetzte Gremium berät […] das LJPA in Ausbildungs- und Prüfungsfragen von grundsätzlicher Bedeutung und hat sich nach intensiver Diskussion für die von uns vorgeschlagene Streichung der Pausentage ausgesprochen.“ Kein Wort zur länderübergreifenden Absprache, die zu jenem Zeitpunkt wohl schon lange
getroffen war.

Der „Ständige Ausschuss“ des LJPA: ein echter Dinosaurier

Die Intransparenz im Vorgehen des Justizministeriums und des LJPA unterstreicht eine Forderung, die der akj Freiburg und die Kritischen Jurist*innen Heidelberg bereits in ihrer oben erwähnten Stellungnahme erhoben haben: Entscheidungsprozesse müssen unter Einbindung von Studierendenvertreter*innen ablaufen. Der „Ständige Ausschuss“9 des LJPA, welcher ausschließlich mit Prüfenden sowie der Präsidentin des LJPA besetzt ist, ist ein echter Dinosaurier. Mit der heutigen Vorstellung einer demokratisch kontrollierten und legitimierten Hochschulpolitik ist er unvereinbar.
Auch auf ihrer Frühjahrskonferenz im Mai 2023 diskutierten die Justizminister*innen die Streichung der Ruhetage im ersten Examen. Der dort gefasste Beschluss gibt Studierenden aber wenig Grund zur Hoffnung. So einigten sich die Minister*innen darauf, die Landesjustizprüfungsämter damit zu beauftragen, „nochmals zu beraten, wie der Tauschring auch bei unterschiedlicher Ruhetagsregelung aufrechterhalten werden könnte.“10 Es folgen also Beratungen, an denen Studierendenvertreter*innen wieder einmal nicht teilnehmen werden, Beratungen, deren Ergebnisse
den Studierenden aller Wahrscheinlichkeit nach nicht
einmal kommuniziert werden.

Endnoten:

  1. Siehe zum Ganzen: Silie/Bruck, Breitseite Februar 2023, S. 49ff. ↩︎
  2. https://akj-freiburg.de/stellungnahme-des-akj-freiburg-und-der-kritischen-juristinnen-heidelberg-zu-den-verkuerzten-examenszeiten-im-jurastudium/ ↩︎
  3. https://www.change.org/jurastudiumstex ↩︎
  4. https://www.neuerichter.de/details/artikel/article/keine-streichung-der-ruhezeiten-in-der-pruefung-zum-ersten-staatsexamen-in-baden-wuerttemberg ↩︎
  5. https://rcds-bw.de/verkuerzung-der-ruhetage-im-juristischen-staatsexamen-in-15-bundeslaendern-justizministerin-gentges-geht-baden-wuerttembergischen-sonderweg/ ↩︎
  6. LT-Drs. 17/4021, S. 4. ↩︎
  7. https://www.justiz-bw.de/site/pbs-bw-rebrush-jum/get/documents_E1051075708/jum1/JuM/Justizministerium%20NEU/Prüfungsamt/Hinweise%20zur%20Staatsprüfung%20in%20der%20Ersten%20juristischen%20Prüfung/Bestimmungen%20zum%20Ablauf_Enfassung.pdf ↩︎
  8. https://jurios.de/2023/03/06/ruhetage-im-juristischen-staatsexamen-das-sagen-die-bundeslaender-zur-streichung/ ↩︎
  9. Vgl. § 6 JAPrO. ↩︎
  10. Beschluss der 94. JuMiKo, TOP I.34. ↩︎