Von Franz
Im Herbst 2023 trug sich in Dresden folgende Kuriosität zu: Nachdem der Christopher Street Day (CSD) Dresden mit seinem politischen Straßenfest 30 Jahre lang stets ohne Probleme als Versammlung genehmigt worden war, erhielten die Organisator*innen in diesem Jahr eine unschöne Überraschung – die zuständige Versammlungsbehörde verweigerte dem politischen Straßenfest die Genehmigung als Versammlung.1 Die Begründung: Dem Straßenfest fehle der politische Charakter, es handele sich vielmehr lediglich um die „Zurschaustellung eines szenetypischen Lebensgefühls“.2 Eine solche fehlende Genehmigung hätte für die Organisator*innen Mehrkosten von 15.000 – 20.000 € bedeuten können.
Zwar konnte der Streit in der Zwischenzeit nach mehr als einem halben Jahr politisch beigelegt werden.3 Dennoch soll diese fragwürdige Entscheidung der Versammlungsbehörde zum Anlass genommen werden, knapp den historisch-menschenrechtlichen Hintergrund des Christopher Street Days zu skizzieren und sodann aufzuzeigen, dass die ursprüngliche Einschätzung der Versammlungsbehörde bzgl. des politischen Straßenfests des CSDs Dresden 2024 nicht mit der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 I GG vereinbar ist.
Sinn und Grund des CSDs: Queere Befreiung, Menschenrechte und Sichtbarkeit
Seine historischen Wurzeln hat der CSD im New York City der sechziger Jahre als Homosexuelle und andere queere Menschen sich in der Bar „Stonewall Inn“, welche auf der Christopher Street liegt, am 28. Juni 1969 einer Polizei-Razzia widersetzten.4 1979 fand der erste Christopher Street Day in Deutschland in Berlin statt. Dabei standen von Anfang an politische Forderungen auf dem Programm, wie etwa die Entkriminalisierung von Homosexualität, die letztlich erst 1994 in (West-)Deutschland vollständig erfolgte.5
Bis heute sind politische Forderungen feste Bestandteile der Christopher Street Days in Deutschland. So fordert der CSD in Dresden 2024 eine Stärkung des Stellenwerts der Gleichstellung, mehr Bildungsarbeit und eine konsequente Verfolgung von Gewalt und Diskriminierung gegen LGBTIQ+.6 Der Freiburger CSD fordert 2024 u.a. einen gemeinsamen Kampf für die Rechte aller „unabhängig von sozialer, kultureller, geografischer Herkunft, Fähigkeiten, körperlicher Ausprägung oder sexueller Orientierung und Identität“ sowie „ein sofortiges Ende der Pathologisierung von trans* und inter*-Personen.“7 Trotz vielfältiger interner, häufig berechtigter Kritik aus der queeren Community8 an Ausrichtung und Diskriminierung ist der Christopher Street Day dabei die größte queere Veranstaltung in sehr vielen Orten in Deutschland. Mit seiner Historie steht er in der Tradition gesellschaftlicher Befreiungsbewegungen. Damit steht er für einen emanzipatorischen Befreiungskampf, bei welchem in sozialen Auseinandersetzungen Rechte erkämpft wurden und werden. Dies ist einer bestimmten Auffassung zufolge der Sinn der Menschenrechte: „Ein rechtliche[r], politische[r] und soziale[r] Status der Nicht-Beherrschung […] von Personen innerhalb einer politischen […] Ordnung.“9 Dieser Status ist nicht erreicht, sondern im Werden. Wie bereits anhand der exemplarischen Nennung einiger politischer Forderungen dargelegt, sind zwar immerhin einige Ziele rt sich darin, sich ungequeerer Menschen erreicht, aber viele Anliegen eben noch nicht. Die Virulenz der oben beispielhaft genannten Forderungen wird bezogen auf den CSD Dresden z.B. daran deutlich, dass nach neuester repräsentativer Erhebung 30 % der Sachs*innen der Aussage zustimmten, dass eine sexuelle Beziehung zwischen Personen desselben Geschlechts unnatürlich sei.10
Die Forderungen des CSDs stehen in einem menschenrechtlichen Kontext. Denn wir sollten Menschenrechte in einem Kontext des Kämpfens „für grundlegende Formen von Respekt als rechtliche, politische und soziale Akteure“11 begreifen. Wenn eine Person beispielsweise mit einem Plakat marschiert, auf welchem „I am a lesbian and I am beautiful“ steht, dann ist das eine grundlegende Forderung, als Person, die zählt, wahrgenommen zu werden. Die menschenrechtliche Forderung besteht des Weiteren darin, als gleichberechtigte und gleichgestellte Person anerkannt zu werden, sodass „es nicht andere sind, die ihm oder ihr sagen, was sein oder ihr angemessener Platz innerhalb der Gesellschaft ist.“12
Neben diesen historischen und sozialphilosophischen Erwägungen sprechen aber auch rechtliche Gründe gegen die ursprüngliche Einordnung der Versammlungsbehörde.
Verfassungs- und versammlungsrechtliche Einordnung
Art. 8 I GG ist dem Bundesverfassungsgericht zufolge als „unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit […] eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt.“13 Es manifestiert sich darin, sich ungehindert und ohne besondere Erlaubnis versammeln zu können.
Der Begriff der Versammlung ist dem Bundesverfassungsgericht zufolge weit zu verstehen.14 „Indem der Demonstrant seine Meinung in physischer Präsenz, in voller Öffentlichkeit […] kundgibt, entfaltet auch er seine Persönlichkeit in unmittelbarer Weise.“15 Idealtypisch geht es um „die gemeinsame körperliche Sichtbarmachung von Überzeugungen, wobei die Teilnehmer […] schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umganges miteinander […] im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen.“16 Es ist aber ein politischer Bezug in Form einer Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gefordert.17
Im vorliegenden Fall ergibt sich bereits durch das kollektive Zusammenwirken der Teilnehmenden sowohl ein politischer Zweck als auch eine politische Botschaft – und zwar die Botschaft, dass man als queere Personen öffentliche Wahrnehmung einfordert und für die gesellschaftliche Legitimität eigener Identität(en) einsteht. Dies kann sich auch im Format des Straßenfestes manifestieren. Denn der „Schutz [der Versammlungsfreiheit] ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfaßt vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen.“18
Dabei hat das politische Straßenfest auch im engeren Sinne an der öffentlichen Meinungsbildung teil. Denn auf dem politischen Straßenfest sind Interviews, Statements von Politiker*innen und von Organisationen fester Bestandteil.19 Neben der grundsätzlich freien Wahl von Ort, Zeit und Zweck ist auch die freie Wahl der Art und Weise der Veranstaltung vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit umfasst.20 Mit dem politischen Straßenfest wählten die Veranstalter*innen ein Format, bei welchem ein gemeinsamer Austausch über politische Ziele erfolgt und neben auch unterhaltenden Elementen wie Kunst und Musik v.a. politische Wortbeiträge von verschiedenen Gruppierungen vorhanden sind, sowie verschiedene Gruppierungen wie z.B. Parteien und Non-Profit-Organisationen an Ständen ihre Programminhalte bezüglich Queerpolitik präsentieren und mit anderen Teilnehmer*innen in den Austausch treten. Erhebliche Teil des Bühnenprogramms sind politischen Forderungen und dem Protest gegen Diskriminierung gewidmet.21
Das Bundesverfassungsgericht erkennt an, dass grundsätzlich auch Musik, Kunst und Elemente lockerer Geselligkeit wie bei einer Party den geforderten politi- schen Charakter der Versammlung belegen können.22 Kunst und Musik sind auch Bestandteil des politischen Straßenfests. Die dargebotene Musik stammt im vor- liegenden Fall von queeren Künstler*innen, welche durch ihre Präsenz auf der Veranstaltung zum einen zu queerer Sichtbarkeit beitragen und an der Demonstration gemeinsamer queerer Identität teilhaben. Zum anderen tragen queere Inhalte in der Musik bei Berücksichtigung des Gesamtkonzeptes des CSDs zur Meinungsbildung bei. Dieser politische Bezug wird gerade auch vor dem Gesamtkonzept des Christopher Street Days deutlich, zumal das Bühnenprogramm politische Wortbeiträge enthält. Last but not least: Bei Zweifeln, ob bei einer Versammlung die politischen oder unterhaltenden Elemente dominieren, ist der politische Charakter zu bejahen und eine Versammlung unter den Schutz von Art. 8 I GG zu stellen.23 Selbst wenn also Zweifel bestünden24, ob das politische Straßenfest einen politischen Charakter hat, käme ihm in diesem Fall der Schutz der Versammlungsfreiheit zu.
Zusammenfassung
Es ist aufgezeigt worden, dass der Christopher Street Day eine politische Geschichte hat, seinem Sinn nach menschenrechtliche Anliegen verfolgt und dass auf ihm politische Anliegen artikuliert werden. Daher hält die ursprüngliche Einschätzung der Versammlungsbehörde einer rechtlichen Bewertung vor dem Hintergrund von Art. 8 I GG nicht stand. Sie scheint vielmehr allein von queerfeindlichen Ressentiments geprägt zu sein.25 Ein Grund mehr, für queere Rechte zu kämpfen – insbesondere in Zeiten extremistischer Bedrohung und wachsender Queerfeindlichkeit.26
Endnoten:
- Vgl. https://www.saechsische.de/dresden/stadt-will-csd-in-dresden-versammlungs-status-aberkennen-5913282.html ↩︎
- https://www.saechsische.de/dresden/csd-dresden/csd-streit-in-dresden-pamphlet-das-vor-unwahrheiten-und-queerfeindlichkeit-trieft-5913782-plus.html ↩︎
- https://www.dnn.de/lokales/dresden/csd-dresden-streit-um-versammlungscharakter-vorbei-BBPGRDJTDVGVNF-S3YV6MGWNUQE.html ↩︎
- https://www.bpb.de/themen/gender-diversitaet/homosexualitaet/38838/geschichte-des-christopher-street-day/ ↩︎
- Martin Burgi/Daniel Wolff, Rehabilitierung der nach § 175 StGB verurteilten homosexuellen Männer: Auftrag, Optionen und verfassungsrechtlicher Rahmen, S. 36 f.; zur Frage der Strafbarkeit von Homosexualität in der DDR aaO, S. 22 ff. ↩︎
- Vgl. 31. CSD Dresden Programmheft 2024, S. 7. ↩︎
- https://freiburg-pride.de/unsere-forderungen/ [Stand 23.05.2024, 21:38 Uhr] ↩︎
- So z.B. writing worstfar queens, Was hat dich bloß so ruiniert? Vom Aufstieg und Fall der Christopher Street Days, femina politica 1/2005, S. 93 ff. ↩︎
- Rainer Forst, Der Sinn und Grund der Menschenrechte. Die Perspektive des kantischen Konstruktivismus, in: ders., Die noumenale Republik. Kritischer Konstruktivismus nach Kant, Frankfurt am Main 2021, S. 169. ↩︎
- Ergebnisbericht Sachsen-Monitor 2023, S. 33. ↩︎
- Rainer Forst, Der Sinn und Grund der Menschenrechte. Die Perspektive des kantischen Konstruktivismus, in: ders., Die noumenale Republik. Kritischer Konstruktivismus nach Kant, Frankfurt am Main 2021, S. 176. ↩︎
- aaO. ↩︎
- BVerfGE 69, 315 (344). ↩︎
- BVerfGE 69, 315 (343). ↩︎
- aaO, S. 345. ↩︎
- aaO. ↩︎
- BVerfGE 104, 92 (104). ↩︎
- BVerfGE 69, 315 (343). ↩︎
- Vgl. 31. CSD Dresden Programmheft 2024, S. 16; 30. CSD Dresden Programmheft 2023, S. 16. ↩︎
- Christian Bumke/Andreas Voßkuhle, Casebook Verfassungrecht, 8. Aufl., Tübingen 2020, Rn. 854. ↩︎
- https://www.dnn.de/lokales/dresden/csd-dresden-streit-um-versammlungscharakter-vorbei-BBPGRDJTDVGVNF-S3YV6MGWNUQE.html ↩︎
- BVerfGE 143, 161 Rn. 113. ↩︎
- BVerfG, NJW 2001, 2459 (2461); BVerfGE 143, 161 Rn. 107 ff. ↩︎
- Dies ist nicht der Fall, siehe oben. ↩︎
- Vgl. https://www.saechsische.de/dresden/stadt-will-csd-in-dresden-versammlungs-status-aberkennen-5913282.html ↩︎
- https://www.queer.de/detail.php?article_id=47043. ↩︎