von Jakob
Ein Kommentar zum Vortrag von Ronen Steinke über „die neue Klassenjustiz“
von Jakob
Am 09. November 2022 hielt Ronen Steinke im Rahmen der Tacheles-Vortragsreihe1 an der Freiburger Universität eine Lesung zu seinem neusten Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich – Die neue Klassenjustiz“, Berlinverlag 2022.
Dieses erschien unterdessen in vierter Auflage und wird ebenfalls im Rahmen der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) verlegt. Für seine Arbeit an dem Buch wurde Steinke im Oktober 2022 mit dem 1. Preis für kritischen Journalismus der Otto-Brenner-Stiftung der IG Metal ausgezeichnet.
Steinke ist promovierter Jurist und Journalist. Er publizierte unter anderem zu antisemitischer Gewalt, jüdischer Geschichte (insb. zur Biographie des ehemaligen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer) und Rechtsextremismus. Seit 2011 schreibt er für die Süddeutsche Zeitung; derzeit als rechtspolitischer Korrespondent.
Auf die Frage, was ihn zu dieser Recherche motiviert habe, antwortete Steinke im Anschluss der Lesung, dass in der Presse viel zu selten über „kleine“ Prozesse berichtet würde, was dazu geführt habe, dass sich in der Öffentlichkeit ein falsches Bild über Kriminalität und somit über die Menschen durchgesetzt habe, die tagtäglich in unseren Amtsgerichten verurteilt werden.
Auf der Anklagebank sitzen ganz überwiegend Menschen, die, von ihren prekären Lebensumständen getrieben, kleinere Eigentums- und Vermögensdelikte begehen. Waren es nun sechs Packungen Eiscreme, die ein Suchtkranker stahl und anschließend verkaufen wollte, um so an etwas Geld für Opiate zu gelangen, oder waren es Kerzen zum Preis von 4,99€, die eine Frau für ihren Adventskranz stahl, die von ihrer knappen Rente kaum leben kann.
Bekenntnis zur aktuellen Strafrechtsordnung
Steinke will nicht nur diese Geschichten sichtbar machen, sondern darüber hinaus auch aufzeigen, welche Nachteile Menschen im Strafverfahren schlicht dadurch erleiden, dass sie arm sind. Das ist ihm gelungen.
Dafür besuchte er unzählige dieser „kleinen“ Prozesse, analysierte sie und stellte seine Erkenntnisse systematisch zusammen.
Beispielsweise kritisierte Steinke, dass zur Bestimmung des Tatbestandsmerkmals der Gewerbsmäßigkeit – wie es einige Normen des Strafgesetzbuchs kennen (z.B. der besonders schwere Fall des Diebstahls (§ 243 StGB) oder des Betrugs (§ 263 Abs. 3 StGB) – auf den Wohlstand bzw. Nicht-Wohlstand des Täters abgestellt wird, indem danach gefragt wird, ob sich der Täter Einnahmen von „einigem Umfang“ verschaffen will. Für einen Menschen, der nichts hat, haben schon 35,94€ – so viel kostete das gestohlene Eis – eben diesen Umfang, sodass das Gesetz hier eine Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten vorsieht. Da im vorliegenden Fall der suchtkranke Mann wiederholt straffällig geworden war (er stand zum fünften Mal vor Gericht), erhielt er schließlich eine Freiheitsstrafe von vier Monaten ohne Bewährung.
Im hypothetischen Fall, dass ein Mensch mit fester Arbeit und dadurch auch mit geregeltem Einkommen das Eis gestohlen hätte, um es in der Mittagspause an seine Kolleginnen zu verkaufen und sich so etwas dazuzuverdienen, wäre das Tatbestandsmerkmal der Gewerbsmäßigkeit wohl nicht bejaht worden. Vermutlich hätte letzterer eine Geldstrafe erhalten oder zumindest eine Freiheitsstrafe auf Bewährung – sollte er wiederholt straffällig geworden sein.
Dass sich derart divergierende Ergebnisse nicht rechtfertigen lassen, auch nicht spezialpräventiv, ist hoffentlich unstrittig. Und doch werden solche unverhältnismäßig hohen Strafen täglich verhängt. Eben weil diesem Tatbestandsmerkmal – dem heutigen Verständnis nach – eine Diskriminierung nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten inhärent ist.
Und so viel nur zu einem – exemplarischen – Aspekt. Steinke beleuchtete noch zahlreiche weitere, an denen ökonomisch schwächer gestellte Menschen im Strafverfahren strukturell diskriminiert werden. Genannt seien nur folgende Schlagworte: Pflichtverteidigung und Ersatzfreiheitsstrafe.
Das Potential nicht ausgeschöpft!
Doch, und das kritisiere ich, stammt der sich aufdrängende Schluss, es handle sich dabei wohl um systemische Diskriminierung, nicht von Steinke selbst, sondern wurde vielfach aus dem Publikum heraus geäußert. Auch auf mehrfache Nachfrage hin, bekannte sich Steinke im Wesentlichen zur aktuellen Strafrechtsordnung und verzichtete damit auf die Fundamentalkritik, die, ausgehend von den von ihm erarbeiteten Prämissen, meines Erachtens nach folgerichtig – „syllogistisch“ geboten – gewesen wäre.
Gleichwohl, das möchte ich gar nicht verschweigen, machte Steinke einige Reformvorschläge, durch welche sich die Lage für die Betroffenen ein Stück weit verbessern ließe. Genannt sei z.B. das unbedingte Recht eines jeden Angeklagten auf eine Verteidigung – und zwar schon im Ermittlungsverfahren; oder schlicht die Entkriminalisierung von Drogen und Schwarzfahren. Diese Reformvorschläge mögen auch einen Wert an sich haben. Gerade dann, wenn diese Positionen parlamentarisch konsensfähig sind, wie er konstatierte.
Doch auch eine (bessere) Pflichtverteidigerin oder eine kritischere Richterin vermögen es nicht, sich über die Wertungen von Recht und Gesetz, wie die der Gewerbsmäßigkeit, hinwegzusetzen. Selbst wenn es jede Richterin mit der Awareness von Fritz Bauer hielte und sich stets fragte, warum oder wozu der Angeklagte Geldeswert haben wollte, würde dies die Diskriminierung nicht beseitigen. Im vorliegenden Fall wusste die Richterin von der Suchtkrankheit des Angeklagten und kannte auch seine ökonomischen Verhältnisse. Sie urteilte nicht wider besseren Wissens mit solcher Härte, sondern aufgrund dieses Wissens, schlicht indem sie den Wertungen von Recht und Gesetz hinsichtlich Gewerbsmäßigkeit und Strafaussetzung folgte.
Dass Steinke dieser und anderen vergleichbaren Erkenntnissen zum Trotz mit seinen Forderungen so zurückhaltend bleibt, ist schade: Hätten doch Buch und Vortrag das Potential gehabt, ernsthaft die Frage nach einer neuen Klassenjustiz aufzuwerfen.2
Fußnoten:
1 Der Vortrag wurde von Tacheles in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis kritische soziale Arbeit (AKS) organisiert. Tacheles ist ein Veranstaltungsreihe die von der Humanistischen Union Baden-Württemberg, dem Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Freiburg und dem Arbeitskreis kritischer Jurist*innen Freiburg (AKJ) organisiert wird.
2 Unkommentiert wird angemerkt, dass Steinkes Buch in jüngster Auflage (bpb-Ausgabe) nunmehr folgenden Untertitel trägt: „Über soziale Ungerechtigkeit in der Strafjustiz“.