von Jan
„Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen verfassungsgemäß“. So urteilte am 14. Januar 2020 das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seiner Entscheidung „Kopftuch III“. Das Kopftuchverbot war einer Rechtsreferendarin muslimischen Glaubens durch die hessische Justizverwaltung auferlegt worden. Es stützte sich auf § 45 des Hessischen Beamten:innengesetzes (HBG), der unter der Überschrift „Neutralitätspflicht“ bestimmte:
1 Beamtinnen und Beamte haben sich im Dienst politisch, weltanschaulich und religiös neutral zu verhalten. 2 Insbesondere dürfen sie Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale nicht tragen oder verwenden, die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu beeinträchtigen oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Frieden zu gefährden. 3 Bei der Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen nach Satz 1 und 2 ist der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition des Landes Hessen angemessen Rechnung zu tragen.
Ähnliche Normen finden sich mittlerweile im Landesrecht fast aller deutschen Länder.1 Sie sind überwiegend als Reaktion auf wegen fehlender Rechtsgrundlage vor den Verwaltungsgerichten gescheiterten Kopftuchverboten entstanden.2 Häufig sind die Tatbestände spezifisch auf das Justizwesen gemünzt, weshalb die Änderungsgesetze oftmals als sogenannte „Justizneutralitätsgesetze“ verabschiedet wurden.3
Diese „Justizneutralitätsgesetze“ stehen allerdings – anders als das Bundesverfassungsgericht bislang zu meinen scheint – auf verfassungsrechtlich dünnem Eis und verstärken Diskriminierungsstrukturen in der Justiz.
Unzureichender Prüfungsmaßstab des BVerfG
Beim Lesen der Normen von „Justizneutralitätsgesetzen“ sind mehrere Grundrechtseingriffe bereits offensichtlich. Das Verbot des Tragens bestimmter religiös- und/oder glaubensbehafteter Kleidungsstücke ist ein eindeutiger Eingriff in die Glaubensfreiheit der betroffenen Personen, denn die schützt nach Art. 4 Abs. 1, 2 Grundgesetz (GG) alle nach außen getragenen Bekundungen des eigenen Glaubens sowie das Recht jedes:r Einzelnen, das gesamte Verhalten an den Lehren des eigenen Glaubens auszurichten.4 Ebenso ist davon das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG beeinträchtigt. Da von „Justizneutralitätsgesetzen“ besonders Frauen muslimischen Glaubens betroffen sind, rückt auch das geschlechtsspezifische Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 1 in den Fokus. Das Verbot bei der Ausführung des Richter:innen- oder Staatsanwält:innendienstes bestimmte Kleidungsstücke zu tragen, stellt darüber hinaus eine Beeinträchtigung der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG dar.
An diesem Punkt hören die Überlegungen des BVerfG jedoch auf. Die Prüfung möglicher Grundrechtsverletzungen beschränkt es in seiner Entscheidung auf die genannten Grundrechte.5
Doch wer das Grundgesetz ein wenig genauer studiert als das BVerfG, der*die findet dort noch andere Normen, die für die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit eindeutig von Relevanz sind. Das Gravierende: Diese Grundgesetznormen sind Grundrechte und gelten besonders für die betroffenen Richter:innen, Staatsanwält:innen und Rechtsreferendar:innen. Es handelt sich zum einen um Art. 33 Abs. 2, 3 GG sowie Art. 140 GG iVm Art. 136 Abs. 1, 2 Weimarer Reichsverfassung (WRV). Diese Artikel normieren einen vom religiösen Bekenntnis unabhängigen, freien Zugang zu öffentlichen Amts- und Dienstverhältnissen wie das der Richter:innen und Staatsanwält:innen. Zum anderen wird eine mögliche Verletzung des glaubens- und religionsspezifischen Diskriminierungsverbots des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG vom BVerfG nicht angesprochen, obwohl in der realen Fallforensik bislang ausschließlich das muslimische Kopftuch und damit der islamische Glauben von Verboten auf Grundlage der „Justizneutralitätsgesetze“ betroffen ist.
Keine Rechtfertigung der Grundrechtseingriffe
Die „Justizneutralitätsgesetze“ greifen in eine Vielzahl von Grundrechten ein. Um nicht gegen das Grundgesetz zu verstoßen, müssen diese Eingriffe verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Nach dem BVerfG ist dies bei allen von ihm geprüften Grundrechten der Fall. Das Verbot sei zulässige Kompromissfindung des Gesetzgebers im Spannungsverhältnis zwischen den individuellen Grundrechten und den Verfassungsgütern des Neutralitätsgebot des Staates, der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und der negativen Religionsfreiheit der Verfahrensbeteiligten.6
Unabhängig von möglichen weiteren Verletzungen der Art. 33 Abs. 2, 3, Art. 140 GG iVm Art. 136 Abs. 1, 2 WRV und Art. 3 Abs. 3 S. 1, überzeugt die Rechtfertigung der vom BVerfG geprüften Grundrechte nicht. Vielmehr fußt die Begründung des BVerfG auf unzulässigen Diskriminierungsmustern.
Um die genannten Rechtfertigungsgründe zu aktivieren, argumentiert das BVerfG aus der Perspektive eines „objektiven Betrachters“ oder „objektiven Dritten“.7 Diese Person findet sich auch in den Normtexten und Begründungen der „Justizneutralitätsgesetze“.8 Aus Sicht von BVerfG und Gesetzgeber könne diese „objektive dritte Person“ das Tragen eines islamischen Kopftuches während einer Gerichtsverhandlung als Beeinträchtigung der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates wahrnehmen, wodurch das Vertrauen in diese geschwächt würde.9
Die Gefahr dieser Argumentation wird deutlich, wenn man sich die Frage stellt, wer hinter dem „objektiven Dritten“ steckt. Das BVerfG versucht darauf abzustellen, dass hinter einem objektiven Dritten die allgemeine Wahrnehmung eines Abweichens vom sonst so durchgeregelten Auftreten einer Richterperson (Amtstracht, Robe) steht. Beim Blick in die Gesellschaft wird aber klar, wo der „objektive“ Vertrauensverlust gegenüber einer Person mit Kopftuch mehrheitlich herrührt. Nämlich aus dem Misstrauen einer weißen, christlich dominierten und von strukturellem Rassismus geprägten Mehrheitsgesellschaft. Auf diese nehmen die Gesetzesbegründungen im Kontext des „objektiven Dritten“ auch explizit Bezug.10 Damit ist das Tor zur Diskriminierung wegen des Glaubens geöffnet. Mit dieser Argumentation macht sich das BVerfG mehrheitsgesellschaftliche Diskriminierungsstrukturen zu eigen und hebelt so grundrechtliche Diskriminierungsverbote aus. Der gleichheitsrechtliche Minderheitenschutz des Art. 3 Abs. 1 und 3 wird in Luft aufgelöst.
Ein durch religiöse Symbolik ausgelöstes mehrheitsgesellschaftliches Misstrauen, kann in keiner Weise die massiven Grundrechtseingriffe rechtfertigen. Das BVerfG erkennt in seiner Entscheidung selbst an, dass allein das Tragen eines Kopftuches oder anderer religiöser Kleidungsstücke keinen Mangel an Objektivität und Neutralität eines:r Richter:in begründet, denn richtigerweise ist diese bereits durch den juristischen Ausbildungsweg gewährleistet bzw. im Falle einer Missachtung über das Richter:innendienstrecht abgesichert.11 Einem wahrhaftig vernünftigen und die Grundrechte respektierenden „objektiven Dritten“ dürfte das bewusst sein. Zweifel an der Neutralität wären unbegründet. Indem die „Justizneutralitätsgesetze“ und das BVerfG aber annehmen, eine „objektive dritte Person“ hege wegen eines Kopftuches Misstrauen in die Neutralität der Justiz, schwingen sich beide zu Anwält:innen der Diskriminierenden und nicht der Diskriminierten auf. Fatal für einen wirklich weltanschaulich-religiös neutralen Staat.
Darüber hinaus verkennt das BVerfG in seiner Entscheidung die tatsächliche Tragweite des Eingriffs in die Ausbildungs- und Berufsfreiheit der Betroffenen sowie die Betroffenheit der weiteren genannten Grundrechte. Im Rahmen von Art. 12 Abs. 1 GG stuft es den konkreten Fall einer Rechtsreferendarin betrachtend das Verbot nach der „Drei-Stufen-Theorie“12 lediglich als Berufsausübungsregelung und damit der untersten am einfachsten zu rechtfertigenden Stufe ein.13 Das verkennt, dass auch Richter:innen und Staatsanwält:innen von den „Justizneutralitätsgesetzen“ betroffen sind, zu deren Berufspflichten das öffentliche Auftreten in Verhandlungen etc. zählt. Fühlen diese sich aus Glaubensgründen verpflichtet, ein Kopftuch oder andere religiöse Symbole in der Verhandlung zu tragen, so wirkt sich das Verbot dieser Kleidungsstücke faktisch als subjektives Zulassungsverbot für deren Beruf aus. Ein wesentlich schwerwiegenderer Eingriff auf zweiter Stufe der „Drei-Stufen-Theorie“, die höhere Rechtfertigungsbedingungen mit sich bringt. Nur in einem Nebensatz wirft das BVerfG diese Möglichkeit auf, meint sie aber mit den gleichen diskriminierenden Gründen rechtfertigenden zu können14 und verkennt dabei, dass hier nicht nur Art. 12 Abs. 1 GG sondern auch die besonderen Grundrechte der Art. 33 Abs. 2, 3 GG und Art. 140 GG iVm Art. 136 Abs. 1, 2 WRV zum Tragen kommen. Beim Beruf der Richterin oder Staatsanwältin handelt es sich um „öffentliche Ämter“ im Sinne der Art. 33 GG und Art. 136 WRV. Die Grundgesetzartikel verbieten bei der Zulassung zu öffentlichen Ämtern ausdrücklich das Anknüpfen an das religiöse Bekenntnis.15 „Justizneutralitätsgesetze“ tun aber genau das, indem sie das glaubensbekennende Tragen von islamischen Kopftüchern und anderen Symbolen verbieten. Selbst wenn man Art. 33 Abs. 2, 3 GG und Art. 136 Abs. 1, 2 WRV so versteht, dass nicht das Anknüpfen generell, sondern nur eine Ungleichbehandlung zwischen den Bekenntnissen verboten sei, ergibt sich ein Widerspruch. Die faktisch hervorgehobene Betroffenheit des muslimischen Glaubens ausblendend ließe sich formal anführen, „Justizneutralitätsgesetze“ behandeln ihrem Wortlaut nach ja alle Religionen gleich. Was sie aber definitiv ungleich behandeln, sind Menschen, die religionsbekennende Kleidungsstücke tragen im Vergleich zu Menschen, die dies nicht tun. Einer Person, die sich aus ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit zu keinem religiösen Bekenntnis verpflichtet fühlt, wird durch „Justizneutralitätsgesetze“ kein Stein in den Weg zum Beruf der Richter:in oder Staatsanwält:in gelegt. Diese Bevorzugung einer Person ohne offen getragenes religiöses Bekenntnis gegenüber einer Person mit einem solchen ist von Art. 33 GG und Art. 136 WRV aber ebenso verboten.16
Damit bleibt letztlich die Feststellung: Die von „Justizneutralitätsgesetzen“ ausgehenden multiplen Grundrechtseingriffe sind nicht gerechtfertigt und verfassungswidrig.
Glaubenspluralität im Gerichtssaal bedeutet Neutralität der Justiz
Das BVerfG und die Landesgesetzgeber festigen durch „Justizneutralitätsgesetze“ die ohnehin bestehende gesellschaftliche Ausgrenzung von Personen aufgrund ihres Glaubens und vor allem von Frauen muslimischen Glaubens. Es ist schon unabhängig von der juristischen Fachprüfung unerklärlich, warum die für den Staat handelnden Personen in ihrem äußeren Auftreten nicht die Pluralität der den Staat tragenden Bevölkerung widerspiegeln dürfen. Mit der nach wie vor überwiegend weißen und, aus der Perspektive anderer Glaubensgemeinschaften, äußerlich christlich geprägten richterlichen Normperson, verstellt sich die Justiz einem notwendigen Schritt zur wirklichen Stärkung ihrer öffentlichen Neutralitätswahrnehmung. Wenn das BVerfG meint, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft wegen einer kopftuchtragenden Richterin Misstrauen in die Neutralität der Justiz hege, so ist umgekehrt zu fragen: Wie würde das BVerfG denn das Vertrauen oder Misstrauen einer muslimischen Familie vor Gericht bewerten, wenn wie bisher auf den Richter:innenbänken nur Menschen ohne Kopftuch sitzen dürfen? Es ist Zeit, dass die Justiz mehr Pluralität in ihrem öffentlichen Auftreten zulässt, denn nur so kann das Vertrauen in die Neutralität und Objektivität des Rechtsstaates für alle Gesellschaftsteile nachhaltig gestärkt werden.
Fußnoten:
1 NRW: § 21 Abs. 4 Ausführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz (AGGVG) NRW; BW: § 21 Abs. 3 AGGVG BW.
2 Redaktion beck-aktuell, becklink 2018041
3 LT-Drs. 16/1954 für das baden-württembergische „Gesetz zur Neutralität bei Gerichten und Staatsanwaltschaften des Landes“; LT-Drs. 17/3774 für das nordrhein-westfälische „Gesetz zur Stärkung religiöser und weltanschaulicher Neutralität der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen“
4 Std. Rspr. d. BVerfG, vgl. nur: BVerfGE 138, 296 (328 f.)
5 BVerfGE 153, 1 Rn. 77 ff., Rn. 107 ff.
6 BVerfGE 153, 1 Rn. 86-95, 101-113
7 BVerfGE 153, 1 Rn. 90, 92
8 vgl. etwa Gesetzesbegründung in BW, LT-Drs. 16/1954, S. 10 f.
9 BVerfGE 153, 1 Rn. 90, 92
10 BW: LT-Drs. 16/1954, S. 10 f. („öffentliche Diskussionen“)
11 BVerfGE 153, 1 Rn. 99
12 Vgl. BVerfGE 7, 377
13 BVerfGE 153, 1 Rn. 109
14 BVerfGE 153, 1 Rn. 110
15 Korioth, Dürig/Herzog/Scholz GG, Art. 136 WRV Rn. 36
16 Korioth, Dürig/Herzog/Scholz GG, Art. 136 WRV Rn. 34