Über die rechtlich begrenzten Möglichkeiten demokratischer Mitbestimmung an der Uni.
von Jan
„Dieser Hörsaal ist jetzt besetzt!“. So schallte es gegen Ende des Sommersemesters 2022 durch den Hörsaal 1010 im Kollegiengebäude I der Uni Freiburg. Hier hielt der Klimaforscher Volker Quaschning einen vielbesuchten Vortrag. Unmittelbar nach Vortragsende erklärte die Gruppe „Transformationsuni 2.0“ den Hörsaal 1010 für besetzt, bis die Uni Freiburg den sozial-ökologischen Notstand ausrufe und sich stärker für Klimagerechtigkeit einsetze.
Die Reaktionen waren vielseitig. Die Verfasste Studierendenschaft und auch der akj Freiburg solidarisierten sich. Andere kritisierten die Aktion und manche studentische Randgruppen forderten mit Vergleich zum Terrorismus gar eine unverzügliche Räumung.1 Aus der Professor:innenschaft kamen gemischte Reaktionen. Einige erkannten im Einklang mit der Positionierung des Rektorats zwar die politischen Forderungen teilweise an und führten Gespräche, verwiesen die Bestrebungen aber in die dafür vorgesehenen demokratischen Gremien. Es gäbe ja Regeln und Strukturen, in die sich alle einbringen und mitbestimmen können.
Angesichts dieses Verweises lohnt sich ein genauerer Blick auf die tatsächlichen demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten von Studierenden an den Universitäten.2
Die Mitbestimmungsstruktur an den Unis
Wer sich als Studierende:r in der Uni politisch einbringen will, hat insbesondere zwei Möglichkeiten. Da gibt es zunächst die Verfassten Studierendenschaften – also die studentischen Selbstverwaltungen – die politisch und finanziell autonome Gliedkörperschaften der jeweiligen Hochschulen sind und denen nach § 65 Abs. 1 S. 1 Landeshochschulgesetz BW (LHG) alle immatrikulierten Studierenden einer Hochschule angehören. Diese besondere Autonomie der Studierendenschaft gibt es in Baden-Württemberg erst wieder seit 2012. Denn davor hat sich im schwarz-regierten Ländle das 1977 vom damaligen Ministerpräsident, ehemaligen NSDAP-Mitglied und NS-Todesrichter Hans Filbinger verhängte Verbot der Verfassten Studierendenschaften gehalten. Der ersuchte seiner Zeit damit den „Sympathisantensumpf des Terrorismus [an den Hochschulen] trockenzulegen“3.
Die Verfassten Studierendenschaften gliedern sich in der Regel in Fachbereiche der jeweiligen Fakultäten, zu denen dann häufig die Fachschaften gehören.
Darüber hinaus können Studierende sich in den Selbstverwaltungsgremien der Unis einbringen. Das LHG schreibt in § 10 Abs. 1 vor, dass bei nahezu allen Gremien der Uni Studierende stimmberechtigt Mitglied sein müssen. Das umfasst sowohl die gesamtuniversitäre Ebene als auch die der Fakultäten, in denen die wichtigsten Gremien die Fakultätsräte darstellen.
Verfasste Studierendenschaft – Autonomie ohne politisches Mandat
Studentische Selbstverwaltung, frei von Weisungen und mit eigenem Budget – zunächst klingen Verfasste Studierendenschaften nach großem Freiraum für politisches Engagement. Das gilt jedoch nur, solange es sich in den Grenzen der gesetzlich bestimmten Aufgaben der Verfassten Studierendenschaften hält. Nach § 65 Abs. 2 LHG liegen diese etwa in der „Wahrnehmung der hochschulpolitischen, fachlichen und fachübergreifenden sowie der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Belange der Studierenden“, oder in der „Förderung der sportlichen Aktivitäten der Studierenden“. Die Verfassten Studierendenschaften können auch gem. § 65 Abs. 3 LHG „zu solchen Fragen Stellung beziehen, die sich mit der gesellschaftlichen Aufgabenstellung der Hochschule, ihrem Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung sowie mit der Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der Abschätzung ihrer Folgen für die Gesellschaft und die Natur beschäftigen.“
Doch Stellung beziehen heißt nicht gleich mitbestimmen, denn solche Stellungnahmen sind letztlich Meinungsbekundungen ohne rechtliche Bindungskraft für die Hochschulen.
Hinzu kommt, dass sich das politische Äußerungs- und Betätigungsrecht der Verfassten Studierendenschaften in Baden-Württemberg seit 2018 erheblich verkleinert hat. Bis dahin stand in § 65 Abs. 4 S. 1 LHG, dass die Verfassten Studierendenschaften „im Rahmen der Erfüllung ihrer Aufgaben ein politisches Mandat“ innehaben. Dieser Satz wurde rückstandslos gestrichen. Offiziell begründet wurde das damit, dass die Streichung nur eine Klarstellung der Existenz eines hochschul- und nicht allgemeinpolitischen Mandats darstelle. Dies wäre notwendig, da manche Verfassten Studierendenschaften ihr politisches Mandat vermeintlich zu allgemein interpretiert hätten.4 Doch dieser Behauptung fehlte es zum einen an Fallevidenz in der Gesetzesbegründung. Zum anderen brachte die Streichung auch nicht mehr Klarheit.
Die ehemalige Formulierung normierte ein politisches Mandat, das klar und unmissverständlich auf die gesetzlichen hochschulpolitischen Aufgaben begrenzt war. Allen Überschreitungen stand der Rechtsweg offen. Das ist angesichts der Bedeutung der freien politischen Meinungsäußerung für den demokratischen Rechtsstaat auch sinnvoll. Denn nur vor Gericht kann eine angemessene Abwägung des Einzelfalls stattfinden. Der Landesgesetzgeber entschied sich dennoch, das Gesetz pauschal zu ändern und hemmte die Äußerungskompetenzen damit allgemein. Für den Anspruch auf politische Äußerungen müssen die Verfassten Studierendenschaften nun auf die Aufgabennorm des § 65 Abs. 2 LHG zurückgreifen. In dieser fehlt aber ein ausdrückliches politisches Mandat. Damit gehen erheblich mehr Rechtsunsicherheiten in politischen Betätigungsfragen einher. Diese zwingen die Verfassten Studierendenschaften zur Zurückhaltung. Gelder werden für mögliche rechtliche Verfahren zurückgestellt und fehlen an anderer wichtiger Stelle. Diese Form eines politischen Maulkorbs blendet die Realität einer politischen Studierendenschaft vollständig aus und begrenzt die demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten im öffentlichen Meinungsdiskurs.
Universitäre Gremien – Karlsruhes Diktat der professoralen Mehrheit
Neben den Verfassten Studierendenschaften bleibt die Einbringung in die Gremien der Uni selbst. Für die Fakultätsräte oder das höchste Beschlussorgan der universitären Selbstverwaltung – den Senat – steht allen Studierenden das aktive und passive Wahlrecht offen. Gewählt werden können aber nur die Mitglieder der eigenen Statusgruppe. Die Aufteilung in Statusgruppen (Hochschullehrer:innen bzw. Professor:innen, Wissenschaftlicher Dienst, Mitarbeitende aus Administration und Technik, Promovierende und Studierende) und Begrenzung des Wahlrechts innerhalb dieser entspricht einem Ständewahlrecht. Und wie uns die Geschichte lehrt, bedeutet dies absolute Wahlungleichheit.
Die Existenz studentischer Mitglieder im Senat bedeutet nicht, gleichberechtigt mitbestimmen zu dürfen, denn in den Unis entscheidet faktisch nur eine Statusgruppe – die der Professor:innen. Von den 43 stimmberechtigten Mitgliedern des Senats der Uni Freiburg stellen sie 22 und damit eine absolute Mehrheit. Dem stehen lediglich 5 stimmberechtigte studentische Mitglieder gegenüber. Ein Stimmenverhältnis, das in absolutem Missverhältnis zum tatsächlichen Anteil der Statusgruppen an der Uni steht: In Freiburg kamen im WiSe 2021/22 auf 24.240 Studierende gerade mal 445 Professor:innen.5
Diese professorale Mehrheit fußt nicht nur auf § 10 Abs. 3 LHG, sondern entspringt einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1973.6 Es leitet aus der Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG einen unmittelbaren Anspruch von Hochschullehrer:innen auf mehrheitliche Vertretung in den universitären Gremien ab. Es ist ein Urteil, das die deutsche Hochschullandschaft bis heute prägt, obwohl bereits 1973 durch Sondervotum7 die Herleitung eines verfassungsrechtlichen Gebots zur professoralen Mehrheit scharf kritisiert und abgelehnt wurde: Die Entscheidung der Senatsmehrheit leide „an Unklarheiten über die verfassungsrechtliche Bedeutung objektiver Wertentscheidungen mit der Folge, dass das […] Freiheitsrecht des Art. 5 Abs. 3 GG […] sinnwidrig in ein ständisches Gruppenprivileg und Herrschaftsrecht umgemünzt wird.“8
Das Verständnis der damaligen Senatsmehrheit über die Wissenschaftsfreiheit geht weit über den eigentlichen Freiheitsgehalt hinaus. Für die:den einzelnen Professor:in liegt der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG darin, in autonomer Selbstbehauptung über Inhalt von Forschung und Lehre sowie die Verbreitung derer Ergebnisse bestimmen zu können.9 Die Organisation einer Hochschule, derer Selbstverwaltungsorgane sowie der Mehrheitsverhältnisse in diesen wird dadurch nicht gleichzeitig festgesetzt.10 Eine Festsetzung der professoralen Mehrheit erachtete die Senatsmehrheit 1973 aber dennoch für notwendig, um davor zu schützen, dass ein universitäres Organ mit seinen Beschlüssen in die Wissenschaftsfreiheit einzelner Wissenschaftler:innen eingreifen könne. Die Senatsmehrheit kommt zum Schluss, dass dies nur mit mehrheitlicher Vertretung von Professor:innen erreicht werden kann.11 Dagegen ist jedoch zu fragen, warum denn ein von der Mehrheit der Professor:innen getragenes Organ die Wissenschaftsfreiheit eines:r einzelnen Wissenschaftler:in nicht oder weniger verletzen kann? Die Senatsmehrheit von 1973 meint diese Garantie wohl in der „wissenschaftlichen Qualifikation“ und der „Funktion und Verantwortung“ von Professor:innen zu sehen.12 Das BVerfG wirft damit einen Gedanken auf, der weitergedacht nichts anderes als eine Art Immunität von Professor:innen bei grundrechtsverletzendem Verhalten bedeutet. Wer Professor:in ist könne andere Wissenschaftler:innen quasi nicht in deren Wissenschaftsfreiheit verletzen. Woher die Senatsmehrheit diese besondere Stellung von Professor:innen verfassungsrechtlich herleiten und gegenüber allen anderen Wissenschaftler:innen als hervorgehoben begründen will, bleibt offen. Mit der Logik des Grundgesetzes ist diese allerdings nur schwer zu vereinbaren, denn das Grundgesetz normiert das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit nicht als besonderes Recht von Professor:innen, sondern als „Jedermensch-Grundrecht“ für alle Menschen, die Wissenschaft betreiben. Mit der Urteilsbegründung hat es die Senatsmehrheit aber geschafft, ein für alle gleichrangig geltendes Grundrecht in ein Privileg einer einzelnen Berufsgruppe zu verwandeln. Damit bleibt dem Sondervotum von 1973 auch heute noch beizupflichten und das vom Bundesverfassungsgericht vertretene Verständnis der Wissenschaftsfreiheit im Kontext der Hochschulorganisation eine „Grundrechtsinterpretation, die in letzter Konsequenz zu einer „ständischen“ Auflösung der Demokratiestruktur führen müsste.“13 An dieser Stelle sei nur beiläufig darauf hingewiesen, dass von den sechs Verfassungsrichter:innen der Senatsmehrheit von 1973 insgesamt vier den Titel des:der Professor:in entweder vor oder nach ihrer Amtszeit selbst trugen.
Die demokratische Mitbestimmung für Studierende in den universitären Gremien ist und bleibt somit aufgrund des höchstrichterlichen Diktats aus Karlsruhe marginal.
Hörsaalbesetzung statt Engagement in den Gremien!
Der Verweis von politisch engagierten Menschen aus dem besetzten Hörsaal in die „demokratischen“ Gremien entpuppt sich mehr und mehr als Versuch, den Meinungsdiskurs an Hochschulen kontrollieren und eindämmen zu können. „Demokratische“ Mitbestimmung in den Gremien und Organisationsstrukturen ist nur stark eingeschränkt und nicht ohne die Mitwirkung des Standes der Professor:innen möglich. Die Äußerungsbefugnisse und die Einflussnahme der autonomen Studierendenschaften unterliegen einem rechtlich streng reglementierten Katalog. Die Mitbestimmungsstrukturen unserer Hochschulen und Universitäten gleichen vielmehr denen aus Zeiten von Ständegesellschaft und Frühkonstitutionalismus.
Angesichts dieses Demokratiedefizits bleibt eine Schlussfolgerung: friedliche Hörsaalbesetzungen können im Einzelfall ein legitimes Mittel zur Einflussnahme auf hochschulpolitische Entscheidungen sein.
Fußnoten:
1 https://lhg-bw.de/freiburg/2022/06/22/statement-der-lhg-freiburg-zur-juengsten-freiburger-hoersaalbesetzung-im-hs-1010/
2 Im Fokus steht hier das baden-württembergische Hochschulrecht, die Grundsätze sind aber deutschlandweit übertragbar.
3 https://web.archive.org/web/20010716093824fw_/http://www.usta.de:80/Wir/UStA/1977.html
4 LT-Drs. 16/3248, 43
5 Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Jahresbericht der Rektorin, 01.01.2021-31.12.2021, S. 14, 52
6 BVerfGE 35, 79
7 BVerfGE 35, 79 (148 ff.)
8 BVerfGE 35, 79 (150)
9 Übereinstimmend Sondervotum BVerfGE 35, 79 (151) und Senatsmehrheit BVerfGE 35, 79 (112 f.)
10 Übereinstimmend Sondervotum BVerfGE 35, 79 (151) und Senatsmehrheit BVerfGE 35, 79 (116-131)
11 BVerfGE 35, 79 (120, 130-133)
12 BVerfGE 35, 79 (132 f.)
13 BVerfGE 35, 79 (156)