Ab der kommenden Kommunalwahl im Jahr 2024 dürfen in Baden-Württemberg wohnungslose Menschen wählen und gewählt werden. Obwohl diese Bevölkerungsgruppe in besonderem Maße von Entscheidungen der Kommunalpolitik betroffen ist, war sie bislang von den Wahlen des Gemeinderates ausgeschlossen. Die Änderung wurde vom baden-württembergische Landtag im März beschlossen.1
Rechtlicher Grund für den bisherigen Ausschluss aus dem Wahlrecht war die Formulierung von § 14 der baden-württembergischen Gemeindeordnung. Dort hieß es bislang nur, dass die „Bürger“ wahlberechtigt sind. Um Bürger*in zu sein, muss ein Mensch aller- dings in der Gemeinde gemeldet sein und dort seinen Hauptwohnsitz haben. Menschen, die auf der Straße leben, gehören daher im rechtlichen Sinne nicht zu den Bürger*innen. Daran ändert auch eine sogenannte Postersatzadresse nichts, die viele wohnungslose Menschen in sozialen Einrichtungen wie der Freiburger Pflasterstub’eingerichtet haben, um Briefe empfangen zu können.
Mit der Gesetzesänderung erhalten alle Menschen, die aus diesem Grund bisher nicht wählen durften, ein aktives und ein passives Wahlrecht: sie können jetzt wählen und gewählt werden. Voraussetzung dafür ist, in keiner Gemeinde einen Wohnsitz zu haben und sich seit mindestens drei Monaten in der Gemeinde gewöhnlich aufzuhalten. Bei den Landtags- und Bundestagswahlen hatten wohnungslose Menschen bereits ein Wahlrecht. Auch auf kommunaler Ebene konnten sie schon in vielen Bundesländern wählen. Die Änderung in Baden-Württemberg war damit lange überfällig.2
Dennoch bleibt die Teilnahme an der Wahl für wohnungslose Menschen ungleich schwerer als für Menschen, die in der Gemeinde gemeldet sind. Neben den tagtäglichen Ausgrenzungen aus der Stadtgesellschaft müssen sie hohe rechtliche Hürden überwinden, um an der Kommunalwahl teilnehmen zu können. Um wählen zu können, müssen sie sich künftig einige Wochen vor dem Wahltermin bei der Wahlbehörde melden, um sich in das Wählerverzeichnis der Gemeinde eintragen zu lassen. Dabei müssen sie auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gemeindegebiet nachweisen. Wie dies im
Einzelfall gelingen soll, bleibt fraglich. Zu Recht merkte die Liga der freien Wohlfahrtspflege in ihrer Stellungnahme zum Gesetzesentwurf an, dass diese Anforderungen eine hohe Schwelle bedeuten und regte daher an, die Meldefristen vor der Wahl herabzusenken.
In den Lesungen im Landtag spielte die Gesetzesänderung kaum eine Rolle.3 Alle demokratischen Parteien trugen die Änderung mit. Nur die AfD zeigte einmal mehr ihr menschenfeindliches Gesicht: „Was hat das Wahlvolk davon, wenn Obdachlose wählen dürfen?“, fragte ihr Redner im Plenarsaal und knüpfte damit an die lange Tradition von rechts an, wohnungslose Menschen als „Asoziale“ aus dem Volksbegriff zu eliminieren.4
Zu kritisieren ist die Wahlrechtsreform aus der entgegengesetzten Richtung. Sie geht nicht weit genug. Noch immer ist das Stimmrecht nur Deutschen und
EU-Bürger*innen vorbehalten. Menschen mit einer anderen Staatsangehörigkeit sind von der Wahl ausgeschlossen.5 Die aktuelle Reform kann daher nur ein kleiner Zwischenschritt auf dem Weg zu einem wirklich demokratischen Kommunalwahlrecht sein, das all denen eine Stimme gibt, die Teil der Stadtgesellschaft sind. (PN)
- Artikel 1 Gesetz zur Änderung kommunalrechtlicher und anderer Vorschriften vom 4. April 2023 ↩︎
- https://www.badische-zeitung.de/obdachlose-duerfen-ihre-stimme-bei-der-ob-wahl-nicht-abgeben–151767599.html ↩︎
- Plenarprotokolle 17/58 und 17/61 ↩︎
- https://www.kein-vergessen-mv.de/sozialdarwinismus-als-staerkstes-motiv/ ↩︎
- Siehe dazu Annes Artikel in Breitseite SoSe 2022, S. 14 ff. ↩︎