Strafbarkeit von Sitzblockaden?

Strafrecht-Crashkurs für Nichtjurist:innen und Amtsrichter:innen

Von Jakob

Breitseite-Ausgabe SoSe 2023

Seit die Aktivist:innen der Gruppe Letzte Generation 2022 begonnen haben, durch Sitzblockaden auf öffentlichen Straßen auf den menschengemachten Klimawandel und seine Folgen aufmerksam zu machen, werden Sie von rechter Seite mit heftigen verbalen Angriffen überzogen. Ehemalige CSU-Bundesverkehrsminister taten sich besonders dabei hervor, das Nationalheiligtum Auto zu verteidigen und schmähten die Aktivist:innen als „Klimakriminelle“ oder „Klima-RAF“, die selbstverständlich hart zu bestrafen bzw. „einfach wegzusperren“ seien.1 Staatsanwaltschaften und Amtsgerichte ​sahen​ das ​bundesweit ​ähnlich:​ Häufig ​wurden​ Aktivist:innen wegen Nötigung (§ 240 StGB) zu Geld-, teilweise sogar zu Freiheitsstrafen verurteilt. Einen neuen Höhepunkt hat die Repression am 24.05.2023 mit den großangelegten Razzien sowie der Abschaltung der Website der Letzten Generation aufgrund des Verdachts der Bildung bzw. Unterstützung einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB erreicht.2 Dementgegen hält ein Bundesverfassungsgerichtspräsident a.D. die Aktivitäten der Letzte Generation für „harmlose Sandkastenspiele“ und das Vorgehen der Staatsanwaltschaften für überzogen.3 In Freiburg sprach das Amtsgericht einen Aktivisten, der zugegeben hatte, sich an einer Straßenblockade beteiligt zu haben, frei.4 Grund genug sich anzuschauen, ob die strafrechtliche Beurteilung der Sitzblockaden wirklich so eindeutig ausfällt. Wegen Nötigung nach § 240 Abs. 1 StGB macht sich strafbar, wer einen anderen Menschen mit Gewalt (oder Drohung) zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt. Die Tat ist aber nur dann rechtswidrig, wenn die Anwendung des Nötigungsmittels zu dem angestrebten​ Zweck​ als​ verwerflich​ anzusehen​ ist.

Mit Gewalt?

Kann das friedliches Hinsetzen auf eine Straße ohne körperliche Einwirkung auf Autofahrer:innen wirklich Gewalt im Sinne des § 240 StGB sein? Bei der Auslegung von Strafgesetzen ist stets Art. 103 Abs. 2 GG zu beachten. Dieser gibt vor, dass die Strafgerichte sich streng an den Wortlaut der Strafnormen halten müssen und kein Verhalten bestraft werden darf, dass nicht von diesem erfasst wird. Früher war der Bundesgerichtshof (BGH) der Meinung, dass das Wort Gewalt i.S.d. § 240 Abs. 1 StGB auch in Fällen ohne körperliche Einwirkung auf das Nötigungsopfer vorliege („vergeistigter Gewaltbegriff“).5 Dem schob das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Januar 1995 einen Riegel vor: Eine auf jede körperliche Zwangswirkung verzichtende Auslegung des Wortes „Gewalt“ verstößt gegen Art. 103 Abs. 2 GG.6 Daraufhin wurde der gescholtene BGH kreativ und entwickelte nur ein halbes Jahr später im Juni 1995 die „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“. Nach dieser werde die erste Autofahrerin zwar nur durch psychischen Zwang dazu gebracht anzuhalten, alle folgenden Autofahrer:innen würden jedoch durch das vor ihnen stehende Fahrzeug als körperliches Hindernis zum Anhalten gezwungen und damit Opfer einer Nötigung mit Gewalt. Diese Konstruktion wurde viel kritisiert7 und dennoch 2011 vom BVerfG für verfassungskonform erklärt.8 Sie ist mittlerweile fest etabliert. Wer sich friedlich auf eine Straße setzt, handelt also nach ständiger Rechtsprechung mit Gewalt – sobald das zweite Auto zum Anhalten gezwungen ist.

Verwerflich?

Geht man davon aus, dass Sitzblockaden tatsächlich den Gewaltbegriff des § 240 Abs. 1 StGB erfüllen, bleibt die Frage, ob die Tat auch nach § 240 Abs. 2 StGB verwerflich​ ist.​ Diese​ Verwerflichkeitsklausel muss unter Berücksichtigung der Grundrechte der Beteiligten ausgelegt werden und ist ein Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Infrage kommt hier insbesondere die Versammlungsfreiheit der Aktivist:innen aus Art. 8 Abs. 1 GG. Dieser gewährleistet das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Früher wurde vehement vertreten, wer gewaltsam i.S.d. § 240 Abs. 1 StGB handele, der versammele sich nicht friedlich i.S.d. Art. 8 Abs. 1 GG und dürfe sich daher nicht auf die Versammlungsfreiheit berufen.9 Doch das Bundesverfassungsgericht stellte unmissverständlich klar: „Geschützt sind nicht allein Veranstaltungen, bei denen Meinungen in verbaler Form kundgegeben oder ausgetauscht werden, sondern auch solche, bei denen die Teilnehmer ihre Meinungen zusätzlich oder ausschließlich auf andere Art und Weise, auch in Form einer Sitzblockade, zum Ausdruck bringen.“10 Auch die Aktivist:innen der Letzten Generation können sich also auf die Versammlungsfreiheit berufen, deren grundlegende Bedeutung als „unentbehrliches Funktionselement des demokratischen Gemeinwesens“ nicht überschätzt werden kann.11 Diese ist in einen möglichst schonenden Ausgleich mit der Fortbewegungsfreiheit der blockierten Autofahrer:innen zu bringen. Hierbei gibt das BVerfG den Strafgerichten einige Kriterien an die Hand: „Dauer, Intensität [der Beeinträchtigung], vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten, Dringlichkeit des Transports, Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand.“12 Anhand dieser gilt es im Einzelfall im Rahmen einer sorgfältigen Grundrechtsabwägung zu einem verhältnismäßigen Ergebnis zu kommen. Vieles spricht dafür,​ die​ häufigen​ Fälle, in denen die Blockaden vorher ankündigt und schon nach kurzer Zeit von der Polizei beendet werden,13 entsprechend den Vorgaben des BVerfG nicht als verwerflich ​zu​ beurteilen. ​Der​ enorm​ klimaschädliche ​Individualverkehr mit Autos steht zudem in einem engen Sachzusammenhang zum Anliegen der Aktivist:innen. Dennoch​ geht​ die​ Justiz​ häufig ​pauschal ​von​ der ​Verwerflichkeit​ der​ Sitzblockaden​ aus.14 Eine erfreuliche Ausnahme stellt das Urteil des Amtsgericht Freiburg dar, welches einen Aktivisten wegen mangelnder Verwerflichkeit​ der ​angeklagten​ Sitzblockaden ​freigesprochen hat. Das Amtsgericht berücksichtigte dabei auch Art. 20a GG und den Klima-Beschluss des BVerfG.15 Ob die Aktivist:innen zudem durch einen Klimanotstand nach § 34 StGB gerechtfertigt sind, kann an dieser Stelle offen bleiben.16
Es mag gute Gründe geben, Aktionen, Hierarchien und Strategien der Letzten Generation zu kritisieren. Wer diese aber pauschal als Kriminelle abstempelt, der bringt sich in Widerspruch zur über Jahrzehnte entwickelten Judikatur des BVerfG zum Thema Sitzblockaden.

Endnoten:

  1. https://www.rnd.de/politik/csu-politiker-dobrindt-ueber-letzte-generation-klima-raf-muss-verhindert-werden-Z27JODTPPVBIY4GV6VZYLW3I44.html; https://www.lto.de/recht/meinung/m/kommentar-dr-markus-sehl-hallo-herr-justizminister-twitter-trend-ex-verkehrsminister-scheuer-klimaaktivisten/ ↩︎
  2. https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/durchsuchung-razzia-kriminelle-vereinigung-letzte-generation/ ↩︎
  3. https://www.tagesschau.de/inland/klimakleber-vosskuhle-100.html ↩︎
  4. AG Freiburg, KlimR 2023, 59. ↩︎
  5. Bspw. BGHSt 23, 56. ↩︎
  6. Zuvor hatten die konservativen Richter:innen im Gericht die Feststellung der Verfassungswidrigkeit zweimal erfolgreich blockiert. Beide Entscheidungen ergingen 4:4. BVerfGE 73, 206; 76, 211. ↩︎
  7. Magnus, NStZ 2012, 538, 541 f.; Sinn, in: MüKO, StGB § 240 Rn. 52. ↩︎
  8. BVerfG, Beschl. v. 07.03.2011 – 1 BVR 388/05, BeckRS 2011, 49212. ↩︎
  9. Vgl. das von der Senatsmehrheit mehrfach namentlich kritisierte Sondervotum der Bundesverfassungsrichterin Haas, BVerfGE 104, 92, 115 ff. ↩︎
  10. BVerfGE 87, 399, 406. ↩︎
  11. BVerfGE 69, 315, 344; sog. Brokdorf-Beschluss. ↩︎
  12. BVerfGE, 104, 92, 112. ↩︎
  13. Häufig​ unter​ Androhung ​und ​Anwendung ​von ​Gewalt.​ Die Vereinbarkeit der Anwendung von Schmerzgriffen mit Art. 3 EMRK ist fraglich. ↩︎
  14. Vgl. Wolf, in: Grundrechtereport 2023, S.196 ff. ↩︎
  15. AG Freiburg, KlimR 2023, 59, 61 f. ↩︎
  16. Vgl. Urteil des AG Flensburg, KlimR 2023, 25; Die Breitseite berichtete in der vorangegangenen Ausgabe. ↩︎