„Chancenaufenthalt – Bleiberecht für alle? “

Die Ampel kündigte mit Beginn der neuen Legislaturperiode einen „Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik“ an. Im Zuge dessen ist auch ein neues Gesetz in Kraft getreten, der Chancenaufenthalt nach § 104c Aufenthaltsgesetz. Aber gibt dieses Gesetz Migrant:innen wirklich eine „Chance“ oder wird die gleiche rassistische Migrationspolitik fortgesetzt?

Von Alexandra

Breitseite-Ausgabe SoSe 2023

Nach der Bundestagswahl 2021 hatten die Ampelparteien in ihrem Koalitionsvertrag einen „Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik“ festgelegt. Ende 2022 beschloss der Bundestag dann in diesem Sinne das Chancenaufenthaltsgesetz, welches am 1. Januar 2023 in Kraft trat.
Der Chancenaufenthalt ist ein Aufenthaltstitel, der geflüchteten Menschen die Möglichkeit geben soll, in Deutschland zu leben, ohne die Abschiebung in ihr Heimatland zu befürchten. Er gilt für Menschen, die sich seit mehr als fünf Jahren in Deutschland aufhalten und keine Straftaten begangen habe. In Deutschland sind das (Stand 01.01.2023) rund 136.000 Menschen. Das Chancenaufenthaltsrecht stellt insbesondere für Menschen, die aufgrund eines negativen Asylverfahrens zur Ausreise verpflichtet und aktiv von Abschiebungen bedroht sind, eine Perspektive dar. Rund 200.000 Menschen leben in Deutschland mit einer solchen Duldung1. Insbesondere für geduldete Geflüchtete, die ihren Reisepass nicht an die Ausländerbehörde abgegeben haben und deshalb eine Reihe von Schikanen durch sie erdulden müssen, ist es oft besonders schwer, ein Aufenthaltsrecht zu erlangen. Die Einführung eines
Aufenthaltstitels, der grundsätzlich alle geduldeten Geflüchteten umfasst, die eine längere Zeit in Deutschland leben, ist deshalb erstmal zu begrüßen.

Bleiberecht gegen Auflagen und harte Fristenregelung

Jedoch ist der Chancenaufenthalt auf 18 Monate begrenzt und führt nur dann
zu einem Anschluss-Aufenthaltstitel, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden: So muss eine Arbeit, Reisepass und Deutsch-Kenntnisse vorgelegt werden. Das mag sich auf den ersten Blick zwar machbar anhören, birgt jedoch im Einzelfall einige Probleme: So ist nicht klar, ob auch erwerbsunfähige oder alleinerziehende Personen, die nicht arbeiten können, eine Arbeit nachweisen müssen. Auch die Passbeschaffung gestaltet sich für Geflüchtete
häufig schwierig.2 Lange Wartezeiten bei Integrations- und Sprachkursen, mangelnde Gewährleistung der Kinderbetreuung und wenig Lerngelegenheiten im Alltag durch Abschottung in Asylbewerber:innenheimen führen zu Schwierigkeiten beim Erlernen der deutschen Sprache.3 Kann eine der Voraussetzung nicht erfüllt werden, rutscht die Person nach anderthalb Jahren wieder zurück in die Duldung und muss eine Abschiebung in ihr Herkunftsland befürchten.
Der Gesetzgeber hat sich beim Chancenaufenthalt außerdem für eine harte Fristenregelung entschieden: Alle Menschen, die bis zum 31. Oktober 2017 eingereist sind, können den Chancenaufenthalt erhalten. Diese Möglichkeit steht Personen nicht offen, die bspw. am 01. November 2017 eingereist sind. Eine solche Differenzierung ist willkürlich und kaum zu erklären.

Ausschluss selbst bei leichtesten Straftaten

Ausgeschlossen vom Chancenaufenthalt sind Menschen, die wegen einer vorsätzlichen Straftat von mehr als 50 Tagessätzen verurteilt wurden (bei „ausländerspezifischen“ Straftaten wie illegaler Einreise sind es 90 Tagessätze). Der Gesetzgeber verfolgt dabei das Ziel, Straftäter:innen konsequent abzuschieben. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund problematisch, dass migrantische Personen besonders oft von Kriminalisierung und „racial profiling“ durch die Polizei betroffen und auch leichte Delikte wie Erschleichen von Leistungen („Schwarzfahren“) zu einem Ausschluss des Aufenthaltsrechts führen.4 Ein Pflichtverteidiger wird zudem erst ab einer bestimmten Schwere der Straftat vom Staat gestellt, sodass viele Menschen vor Gericht ohne Verteidigung verurteilt werden. Die Versagung von Aufenthaltsmöglichkeiten wegen einer Straftat stellt sich wie eine zweite „Strafe“ dar. Oft strebt der Staat zudem ein sog. Ausweisungsverfahren an, sodass selbst Menschen, die bereits ein Bleiberecht haben, dieses verlieren könnten. Dass die Strafe bezahlt bzw. abgesessen wurde und der/die Täter:in ein Recht auf Resozialisierung hat, wird dabei vergessen.

Kein Bleiberecht für alle, sondern Mittel zur Ausbeutung

Der Chancenaufenthalt reiht sich in die Politik des deutschen Gesetzgebers ein, die die Überausbeutung von migrantischen Menschen ermöglicht. Durch unsichere Aufenthaltsstatus werden Menschen in Arbeitsverhältnisse mit niedrigeren Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen gezwungen.5 Das europäische Migrationsregime schafft und erhält sich dadurch einen Niedriglohnsektor. Dabei setzt die EU einerseits auf Abschottung und ein repressiv Grenzregime.6 Andererseits nutzen sie integrative Maßnahmen, die, wenn sich die Betroffenen nicht als passende Arbeitskräfte erweisen, in repressive umschwingen. Dies wird von rassistischer Abwertung und Ausgrenzung von Ressourcen wie Gesundheit, Wohnraum und Bildung begleitet.7 Trotz dessen, dass der Chancenaufenthalt rund 136.000 Menschen in teils sehr prekären Lebenslagen eine aufenthaltsrechtliche Perspektive gibt, muss die Regelung im übergeordneten Kontext von Migration gesehen werden. Der Chancenaufenthalt stellt dabei eine weitere Maßnahme in der europäischen Migrationspolitik dar, die migrantische Menschen in billige Arbeitskräfte verwandelt. Er ist dabei kein Bleiberecht für alle, sondern eine Maßnahme im Interesse der deutschen Kapitalist:innen, Ausbeutung aufrechtzuerhalten und auszuweiten.

Endnoten:

  1. https://fluechtlingsrat-bw.de/asylpolitik-asylverfahren/chancen-aufenthaltsrecht-darf-nicht-ausgehoehlt-werden/ ↩︎
  2. https://fluechtlingsrat-bw.de/asylpolitik-asylverfahren/chancen-aufenthaltsrecht-darf-nicht-ausgehoehlt-werden/ ↩︎
  3. https://www.br.de/nachrichten/bayern/integration-ausgebremst-zu-wenige-sprachkurse-fuer-gefluechtete,SwC02AG ↩︎
  4. https://perspektive-online.net/2020/06/wie-armut-insgefaengnis-fuehrt/ ↩︎
  5. https://perspektive-online.net/2022/05/gefluechtet-werden-
    gezielt-fuer-schwarzarbeit-ausgenutzt/
    ↩︎
  6. https://perspektive-online.net/2023/05/europaeischefluechtlingspolitik-abschotten-abschieben-ertrinkenlassen/ ↩︎
  7. https://perspektive-online.net/2022/11/migrationsplaene-
    der-ampel-arbeitskraefte-fuer-das-deutsche-kapital/
    ↩︎